Bundesrat Stenographisches Protokoll 614. Sitzung / Seite 74

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Kindern, droht diesbezüglich eine Gratwanderung, die, wie ich glaube, nicht so ohne weiteres verstanden werden kann. Diese Familien gehen eigentlich tagtäglich an der Armutsgrenze spazieren.

Meine Damen und Herren! Was ich jetzt sage, erlebe ich täglich bei meiner Arbeit im Familienreferat des Landes Tirol. Familien mit Kindern müssen bestimmt sehr oft auf wirtschaftliche Güter verzichten, aber das ist meines Erachtens nicht das eigentliche Problem der Familienarmut. Für die Familie ist Armut vielfach mit psychischen und sozialen Problemen verbunden, die sich auf die Beziehungsebene auswirken. Armut bedeutet auch Einschränkung sozialer Kontakte für alle Teile der Familie, am meisten davon betroffen sind aber die Kinder. Armut bedeutet auch die fast ständige Bedrohung mit dem Verlust von Wohnraum oder einer Überschuldung.

Für Jungfamilien ergibt sich oft ein starker Druck daraus, daß sie wählen müssen zwischen Zeitarmut, die sich ergibt, wenn beide Elternteile erwerbstätig sind, oder Einkommensarmut, wenn ein Elternteil zu Hause bleibt.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf die einseitige Rolle des Staates in der aktuellen Frage der Kinderbetreuung hinweisen. Die öffentliche Hand unterstützt finanziell fast ausschließlich institutionelle Kinderbetreuung, während die persönlich von einem Elternteil erbrachte Betreuungsleistung nach dem zweiten Lebensjahr oder in Zukunft – ich rechne da ab dem 18. Lebensmonat des Kindes – nicht anerkannt wird. Polemisch könnte man hier hinzufügen: Kinder in Kinderkrippen sind dem Staat viel mehr wert als Kinder, die von ihren Eltern oder von einem Elternteil betreut werden.

Hohes Haus! Der Sozialbericht bringt auch eine Darstellung über die Auswirkungen der Anrechnung von Zeiten der Kindererziehung durch Frauen und Mütter auf ihre Pension. So begrüßenswert diese Anrechnung von Zeiten der Kindererziehung von maximal vier Jahren pro Kind ist, sollten wir aber auch für die Zukunft überlegen – dies würde auch meines Erachtens in einen Umbau unseres Sozialsystems passen –, ob in Zukunft Frauen mit Mehrlingsgeburten nicht zusätzliche Zeiten der Kindererziehung angerechnet erhalten sollen, da für diese Frauen ein Weiterarbeiten nach der Karenzzeit fast unmöglich ist.

Ein konkretes Beispiel dazu: In Osttirol hat eine Frau Vierlinge entbunden. Im August läuft die Karenzzeit ab, und ein Zurückkehren an den früheren Arbeitsplatz ist durch die familiäre Situation undenkbar. Ein Kind war schon da, und somit hat diese Familie nun fünf Kinder. Der Vater ist Arbeiter mit einem nicht sehr hohen Einkommen und wird in Zukunft als Alleinverdiener für diese Familie sorgen müssen. Auch wenn wir keine neuen Sozialleistungen dafür einführen wollen oder dürfen, sollten wir – das aber unbedingt – darüber nachdenken, was uns die Leistung dieser Mutter wert ist, und ob in solchen Fällen nicht zusätzliche Zeiten für die Anrechnung von Kindererziehungszeiten vertretbar wären. (Beifall bei der ÖVP sowie Beifall des Bundesrates Dr. Kapral. ) Es geht nicht darum, Neues einzuführen, sondern um eine Umschichtung innerhalb unseres sozialen Systems.

Meine Damen und Herren! Noch einen Satz möchte ich aus dem Vorwort des Herrn Bundesministers zum Sozialbericht zitieren, der da heißt: Durch zeitgerechte Reformen und eine ausgeglichene Finanzierung ist auch in Zukunft unser soziales System abzusichern. – Wie ist dieser Satz zu verstehen, den der Herr Bundesminister 1995 geschrieben hat, angesichts der heutigen Situation der Gebietskrankenkassen? Warum gab es keine zeitgerechten Reformen und keine ausgeglichene Finanzierung? Ich muß heute fragen: Wer hat da versagt?

Ich hätte hier noch einige Fragen an den Herrn Bundesminister, und vielleicht ist es möglich, daß wir auf schriftlichem Weg eine Antwort erhalten.

Die erste Frage: Weshalb haben der Gesetzgeber und der Hauptverband – man kann auch sagen: der Gesetzgeber oder der Hauptverband – die Gebietskrankenkassen im Regen stehengelassen, obwohl sich das finanzielle Defizit bereits seit längerer Zeit abgezeichnet hat?


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