Bundesrat Stenographisches Protokoll 615. Sitzung / Seite 70

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Lieber Herr Kollege! Ich habe vorerst einmal die Aufgabe, mich der sozialen Perspektive der Europäischen Union und insbesondere jener Österreichs zu widmen. Daher glaube ich, wenn es 1996 schon zu einer Revision des Unionsvertrages kommen wird, müssen auch die sozialen Grundrechte in diesen Vertrag aufgenommen werden.

Die Freiheitlichen und andere werden sich sicherlich die Frage stellen, warum soziale Grundrechte in den EU-Vertrag aufgenommen werden sollen. Ich kann Ihnen versichern, es gibt eine Reihe guter Gründe, weshalb es notwendig und auch sinnvoll und wünschenswert ist, daß die sozialen Grundrechte im EU-Vertrag verankert werden, und ich erlaube mir, Ihnen eine Reihe von Zielen bekanntzugeben:

Es geht um die Schaffung einer echten Strategie für die soziale Union, denn nur rechtlich bindende soziale Grundrechte bilden einen Anker einer sozialen Union, die sich auf das Rahmenkonzept, auf die beiden Wege, nämlich auf Gesetzgebung und auf Tarifverhandlungen, begründen kann. Verbindliche Grundrechte sind eine unverzichtbare Voraussetzung, um das Engagement der Mitgliedstaaten für die Vollendung der sozialen Dimension in Europa zu gewährleisten. Die Einbeziehung der sozialen Grundrechte in den Vertrag dient vor allem dem Ziel, auch die allgemeinen Fragen der Subsidiarität zu klären.

Nun einige Grundrechte, die nach unserer und auch nach meiner Ansicht in den EU-Vertrag aufgenommen werden müssen:

Erstens: Die in der Gemeinschafts-Charta für Arbeitnehmerrechte von 1989 enthaltenen Grundgesetze sollen als verfassungsmäßige Bestimmungen in den Vertrag aufgenommen werden.

Zweitens ist es unverzichtbar, daß die Europäische Union die transnationalen Rechte auf Zusammenschluß zum Zwecke von Tarifverhandlungen und Arbeitskampfmaßnahmen anerkennt.

Drittens: Die EU soll als Trägerin von humanistischen Werten in der Europäischen Menschenrechtskommission wirken und die Möglichkeit erhalten, Chancengleichheit und Gleichbehandlung zu gewährleisten, um sich dadurch der Diskriminierung widersetzen und somit einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der europäischen Staatsbürgerschaft leisten zu können.

Zu begrüßen und anzuerkennen ist auch das aus den Berichten zu entnehmende große Bemühen des Herrn Bundeskanzlers Vranitzky und der weiteren Regierungsdelegation, was den besonderen Einsatz für die Beschäftigungssituation in Österreich betrifft. Zu meinem Bedauern wird das Ansteigen der Arbeitslosigkeit in Europa von den anderen Regierungen trotz derzeit über 18 Millionen Arbeitslosen anscheinend bewußt verdrängt und in seiner gesellschaftspolitischen Auswirkung bei weitem unterschätzt. Daher haben wir Österreicher bei der Regierungskonferenz 1996 weiterhin die Verpflichtung, verstärkten Druck zu machen, um zu einem europäischen Beschäftigungspakt zu kommen. Der Beschäftigungspakt soll auf dem allseits bekannten Weißbuch von Delors aufbauen, aber auch die Umsetzung der darin vorgesehenen Maßnahmen beschleunigen.

Es ist auch an der Zeit und angebracht, eine strenge Überprüfung der bisher gesetzten, aber nicht ausreichenden Aktivitäten und Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungssituation vorzunehmen. Es gilt vor allem zu prüfen, wieweit die Verantwortlichen in der EU oder auch die nationalen Regierungen ihre übernommenen Verpflichtungen im Sinne einer stärkeren Beschäftigung bisher erfüllt haben. So hat zum Beispiel die überzogene Stabilitätspolitik in Europa zu einer großen Nachfragelücke geführt und somit auch das Ansteigen der Arbeitslosigkeit ausgelöst.

Das große wirtschaftliche Gefälle in Europa und die offenen Grenzen setzen eine noch stärker koordinierte Konjunkturpolitik voraus, da sonst ein großer Teil der öffentlichen Aufgaben ins Ausland abwandert, vor allem dann, wenn die Preise und die Zinsentwicklung in den Nachbarländern sehr unterschiedlich verläuft. Selbst strukturpolitische Aktionsprogramme, die es gibt – das ist nicht zu bestreiten –, hätten sicherlich mehr Erfolg, würden sie besser als bisher auf der europäischen Ebene koordiniert.


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