Bundesrat Stenographisches Protokoll 629. Sitzung / Seite 109

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Absurde Beispiele für diesen Regelungswahnsinn gibt es sonder Zahl. So wurde das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz, erstmals verlautbart im Jahre 1955, in den darauffolgenden 36 Jahren nicht weniger als 86mal novelliert, wobei oft durch eine einzige Novelle mehr als 100 Paragraphen geändert wurden, sodaß sich der geltende Gesetzestext schlußendlich aus 87 Gesetzen zusammensetzt. Das Sozialrechtsänderungsgesetz hinzugenommen, sind es heute schon 120 verschiedene Gesetze.

Das Arbeitslosenversicherungsgesetz wurde allein im vergangenen Jahr siebenmal novelliert, davon viermal mit Rückwirkung zu verschiedenen Stichtagen. Das ergibt zehn bis elf verschiedene Fassungen pro Jahr und führt dazu, daß für kein Verfahren zum Arbeitslosenversicherungsgesetz vor dem Verfassungsgerichtshof zu Anfang und zu Ende dieselbe Rechtslage gilt.

Das Einkommensteuergesetz wurde letztes Jahr siebenmal geändert, von den rückwirkenden Änderungen im Zusammenhang mit dem Strukturanpassungsgesetz ganz zu schweigen.

Sie können aber auch die heutige Tagung des Bundesrates als Beispiel hernehmen und werden sehen, daß das Beamten-Dienstrechtsgesetz 1979 zuerst unter Tagesordnungspunkt 6 geändert wird und anschließend unter Tagesordnungspunkt 15 gleich noch einmal novelliert wird. Auch dieses aktuelle Beispiel zeigt, daß so etwas schlicht und einfach sinnlos ist.

Meine Damen und Herren! Was ist das für ein Zustand, wenn Gesetze nur noch mit Hilfe der mündlich tradierten Privatmeinung von Beamten interpretierbar sind? Was heißt das für die Rechtssicherheit in diesem Land? – Angesichts dessen darf man sich nicht darüber wundern, daß nicht einmal mehr ein Drittel der Bevölkerung der Meinung ist, daß das Rechtsempfinden der Bürger die Gesetze bestimmt. Diese bürgerverachtende Tendenz schafft eine juristische Zweiklassengesellschaft mit dem Volk auf der einen Seite und wenig informierten Eingeweihten auf der anderen Seite. Dies führt zu einer Entfremdung zwischen dem Gesetz und den Menschen, die für einen modernen Rechtsstaat unerträglich ist.

Ein Staat, der von seinen Bürgern die Beachtung seiner Gesetze verlangt, muß diese den Bürgern auch zugänglich und verständlich machen. Deregulierung bedeutet Rechtsvereinfachung. Ein Rechtssystem darf nicht Selbstzweck sein, sondern muß für Bürger und Unternehmen verständlich sein und der Volkswirtschaft mehr Nutzen als Kosten bringen. Was wir brauchen, sind weniger, bessere und einfachere Gesetze. Das bedeutet auch, daß bei jeder wichtigen Rechtsvorschrift nach einer gewissen Zeit überprüft werden muß, wie sie sich in der Praxis bewährt hat und ob die gesteckten Ziele erreicht worden sind. Dabei muß die Maxime heißen: Wenn es nicht unbedingt notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, ist es unbedingt notwendig, kein Gesetz zu erlassen. Mögliche Alternativen zu neuen Gesetzesnormen müssen vorher geprüft werden. Wenn es zur Beschlußfassung über ein Gesetz kommt, muß sichergestellt sein, daß der Rechtstext verständlich und benutzerfreundlich formuliert und der Anwendungsbereich nicht weiter als unbedingt notwendig gefaßt ist.

Zu der von den Experten beklagten allgemeinen schlechten Qualität der Gesetzgebung hinzu kommt eine steigende Tendenz des fahrlässigen Umganges mit unserer Verfassung. Verfassungsrechtliche Bedenken werden häufig einfach vom Tisch gewischt. Die absehbare Folge sind Massenbeschwerden wie zuletzt die 11 000 Beschwerden zur Mindest-KöSt, die im Lastwagen zum Verfassungsgerichtshof herangekarrt wurden.

Die Bundesverfassung ist rund 50mal novelliert worden und in der geltenden Textierung praktisch unrekonstruierbar, widersprüchlich, willkürlich und lückenhaft. Meine Damen und Herren von der Koalitionsregierung! Die Antwort, die Sie darauf geben, ist mehr als bedenklich: nämlich die Umgehung des Verfassungsgerichtshofes dadurch, daß verfassungswidrige Regelungen von der Koalition mit ihrer Zweidrittelmehrheit einfach in Verfassungsrang erhoben werden. Das ist ein Mißbrauch des Parlaments und eine Aushöhlung der Gewaltenteilung! Daß Sie dabei Gleiches ohne jeden sachlichen Grund ungleich behandeln, verletzt die Grundlagen der österreichischen Bundesverfassung. Daß Sie nicht davor zurückschrecken, rückwirkende Gesetze zu erlassen, ist ein klarer und eindeutiger Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze.


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