Bundesrat Stenographisches Protokoll 636. Sitzung / Seite 120

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Somit ist völlig mißverständlich, wenn der Eindruck erweckt wird, Diversionsmaßnahmen sollten im Falle durchschnittlichen oder gar oberen Kriminalitätsgehaltes zum Tragen kommen. Der Umstand, daß im Begutachtungsentwurf für die Gerichte, deren Entscheidungen im Rechtsmittelweg bekämpfbar sind, bei der Anwendung der Diversion keine Strafobergrenzen vorgesehen sind, ändert nichts an den dargestellten Überlegungen und sollte lediglich die Unabhängigkeit und Freiheit der Gerichte von solchen gesetzlichen Schranken unterstreichen.

Zwar sind seltene Ausnahmefälle denkbar, und es wurden plausible Fälle genannt, in denen auch nach schwereren Delikten Diversionsmaßnahmen sachgerecht erscheinen könnten, doch ist, meine ich, zu überlegen, das Gesetz – um es nicht ungerechtfertigt der Kritik auszusetzen – auf die mit geringerer Strafe belegten Hauptanwendungsfälle zu begrenzen.

Zur Frage 5, nämlich zur Frage, wie viele Verfahren etwa darunter fallen werden: Nach derzeitigen Schätzungen, die naturgemäß nicht verläßlich sind, sich aber auch an den Erfahrungen des außergerichtlichen Tatausgleiches und der Diversion im Jugendstrafrecht und dem Modellversuch außergerichtlicher Tatausgleich im Erwachsenenbereich orientieren, kann erwartet werden, daß diversionelle Maßnahmen in bis zu etwa 30 000 Fällen jährlich und damit bei weniger als einem Viertel der Strafverfahren überhaupt in Betracht kommen werden.

Es ist aber damit zu rechnen, daß die Zahl der Hauptverhandlungen deshalb nicht wesentlich sinken wird, weil, wie auch ausländische Erfahrungen belegen, der bei weitem größte Teil der Diversionsmaßnahmen auf die sogenannten Geldbußen und damit auf Fälle entfallen wird, in denen derzeit eine Strafverfügung erlassen wird, also auch keine Hauptverhandlung stattfindet.

Zur Frage 6, die die Rückfallshäufigkeit betrifft: Diesbezügliche Studien liegen dem Bundesministerium für Justiz bislang nicht vor. Nach den Erfahrungsberichten damit befaßter Stellen, insbesondere der Bewährungshilfe, sowie den Ergebnissen der allgemeinen Sanktionenforschung ist jedoch davon auszugehen, daß der ATA nicht nur keine negative Auswirkung auf die Rückfallsneigung ausübt, sondern die besondere Form der Aufarbeitung der Straftat auch eine besondere Minderung für die Rückfallshäufigkeit darstellt.

Zu den Fragen 7, 8 und 9 darf ich zusammenfassend antworten: Ich habe bereits vielfach darauf hingewiesen, daß es mir ein besonderes Anliegen ist, die Rechtsstellung der Geschädigten im Strafverfahren zu stärken. Im Rahmen der Gesamtreform des Strafprozesses ist beabsichtigt, Personen, die schweren körperlichen oder seelischen Schaden erlitten haben, Befugnisse einzuräumen, die nach Intensität und Umfang jenen eines Anklägers nahekommen. Diese Überlegungen sind so weit gediehen, daß es voraussichtlich möglich sein wird, schon in den nächsten Monaten der Öffentlichkeit einen Diskussionsentwurf vorzustellen.

Derartige Instrumente, wie sie hier angesprochen wurden, sind aber durchaus nicht unproblematisch, worauf beispielsweise auch beim letzten Österreichischen Juristentag im vergangenen Jahr mehrfach und eindringlich hingewiesen wurde.

Die Entprivatisierung der Strafverfolgung und die, wenn Sie so wollen, Verstaatlichung des Strafrechts bilden auch ein wesentliches Kulturmerkmal aller hochentwickelten Staaten. Nur der Staat soll mit einem Gewaltmonopol für die Strafverfolgung zuständig sein. Die Zulassung privater Interessen im Strafrecht – nicht bei der Schadensgutmachung! – birgt nämlich die Gefahr in sich, daß im einzelnen mitunter verständliche, im allgemeinen aber doch eher archaische Rachegedanken breiteren Raum, als es gut ist, gewinnen.

In diesem Sinn glaube ich, daß gerade der außergerichtliche Tatausgleich im besonderen Maße – allerdings nur im unteren Kriminalitätsbereich – geeignet ist, dem Gedanken der Sühne, der Schadensgutmachung und der Versöhnung zu dienen. Seine Möglichkeiten gehen weit über die hinaus, die der klassische Strafprozeß bietet. Gerade der außergerichtliche Tatausgleich ist tendenziell besonders geeignet, dem Opfer mit seinen Interessen breiten Raum einzuräumen. Das haben alle Untersuchungen und die Begleitforschung sowohl zu dem jetzt seit zehn Jahren in Anwendung befindlichen außergerichtlichen Tatausgleich im Jugendbereich als auch zu dem seit 1992 schrittweise ausgeweiteten außergerichtlichen Tatausgleich bei Erwachsenen gezeigt. Die Schadensgutmachung wird dabei in der Regel wesentlichste Voraussetzung des Gelingens


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