Bundesrat Stenographisches Protokoll 637. Sitzung / Seite 156

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ständlichen Sprache über die Gründe seiner allfälligen Festnahme und über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden sowie sich in dieser Sprache zu verteidigen. An dieser Stelle bleibt allerdings ziemlich unbestimmt, welche Verpflichtungen die Vertragsstaaten diesbezüglich tatsächlich übernommen haben.

Damit bin ich bei der negativen Seite der Bilanz angelangt. – Kritisch ist vor allem zu vermerken, daß das Abkommen weithin rein programmatische Bestimmungen enthält, in denen bloß die Zielvorstellungen genannt sind, denen die Vertragsparteien verbunden sind. Sie umschreiben mit anderen Worten kein unmittelbar anwendbares Recht. Somit ist die Umsetzung der in diesem Rahmenübereinkommen festgelegten Grundsätze völlig auf innerstaatliche Rechtsvorschriften angewiesen.

Das Hauptproblem besteht indes im Fehlen jeder Definition, was eine nationale Minderheit ist. Hierfür fehlte unverkennbar der politische Minimalkonsens der Mitgliedsstaaten. Eine einheitliche Begriffsbestimmung war daher realpolitisch nicht erreichbar.

Wen schützt dann aber das Übereinkommen, wenn das Subjekt des Schutzes überhaupt nicht eindeutig festgelegt ist? – In Wahrheit bleibt es den Vertragsstaaten selbst überlassen, konkret zu bestimmen, was eine nationale Minderheit ist und ob es sie folglich auf dem Hoheitsgebiet des betreffenden Staates überhaupt gibt. Somit werden gerade jene Staaten, die einen Bestand von Minderheiten auf ihrem Gebiet leugnen, zuungunsten jener ethnisch-kulturellen Entitäten, die des internationalen Rechtsschutzes am meisten bedürften, nicht ausreichend in die Pflicht genommen. Man muß dabei gar nicht an das Extrembeispiel offizieller politischer Erklärungen der Türkei denken, wonach es gar keine Kurden gebe, weil es sich bei ihnen um sogenannte "Bergtürken" handle. – Mit diesem Hinweis will ich nicht einseitig die ohnehin recht empfindliche Türkei belasten. Ich gebe in diesem Zusammenhang auch zu bedenken, wie es diesbezüglich in Spanien in bezug auf Basken und Katalanen oder in Frankreich in bezug auf Elsässer, Bretonen und Korsen steht.

Ferner folgt aus dem Defizit fehlender Klarstellung, was eine Minderheit im Sinne dieses Übereinkommens ist und welche Minderheiten es somit in den einzelnen Vertragsstaaten gibt, leider ein weiterer erheblicher Mangel: Gemäß Artikel 3 bleibt nämlich spannungsreich in Schwebe, ob sich eine Minderheit allein nach objektiven Merkmalen konstituiert oder ob das zweifellos liberalere Prinzip des subjektiven Bekenntnisses gelten soll. Gewiß liegt es eher auf dessen Linie, wenn das Recht jeder Person proklamiert wird, daß sie frei entscheiden kann, ob sie als einer Minderheit zugehörig behandelt werden möchte oder nicht, und daß dem einzelnen aus dieser Entscheidung beziehungsweise aus der Ausübung der damit verbundenen Rechte keine Nachteile erwachsen dürfen.

Andererseits lautet der einleitende Passus: "Jede Person, die einer Minderheit angehört  ...". – Das ist eindeutig objektiv, das heißt: unabhängig vom eigenen, subjektiven Bekenntnis, formuliert. Demnach stünde es, denkt man beide Prämissen zusammen, den Angehörigen einer Minderheit zwar frei, ob sie die entsprechenden Minderheitsrechte für sich in Anspruch nehmen oder nicht; diese Option wäre aber erst unter der Voraussetzung eröffnet, daß es sich um eine Person handelt, die einer nationalen Minderheit angehört. – Mit anderen Worten ist die subjektive Entscheidung der Person, sich unter diesen Schutz zu stellen, untrennbar mit objektiven, für ihre Identität maßgeblichen Kriterien verbunden.

Meine Damen und Herren! Sie erkennen gewiß die damit aufgeworfene Problematik: Wer bestimmt die für die Ausübung der daran geknüpften Rechte relevante Eigenschaft, einer Minderheit anzugehören? – Zweifellos der jeweilige Vertragsstaat für sein eigenes Hoheitsgebiet, und somit auch jeder Staat, der anhand objektiver Kriterien, die er selbst beurteilt, das Vorhandensein einer Minderheit leugnet. Diese nicht bloß formal-logische petitio principii, sondern dieser meines Erachtens vielmehr polito-logische Zirkel macht wohl die wahre Schwäche des mit dem vorliegenden Übereinkommen erreichten Schutzes jeder wirklich gefährdeten Minderheit überdeutlich.


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