Bundesrat Stenographisches Protokoll 641. Sitzung / Seite 61

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Deshalb war das Beitritts-BVG obligatorisch einer Volksabstimmung zu unterziehen. Dies ist bekanntlich geschehen – freilich mit dem unverzeihlichen verfassungs- und demokratiepolitischen Defizit, daß der Souverän, das Bundesvolk, nicht, wie nach Artikel 44 Abs. 3 B-VG geboten, über die mit dem Beitrittsvertrag bewirkte Gesamtänderung der Verfassung zu befinden hatte, sondern bloß über die Blankoermächtigung der Bundesregierung, den Beitrittsvertrag abzuschließen. Der Effekt einer Gesamtänderung der Bundesverfassung wurde in diesem Bundesverfassungsgesetz gar nicht angesprochen und blieb daher auch dem Bundesvolk weithin verborgen.

Dieses verfassungs- wie demokratiepolitisch kritikwürdige Vorgehen bildet so gesehen keinerlei Empfehlung dafür, bei einer solch einschneidenden Fortentwicklung der EU, also einem weiteren folgenreichen Integrationsschritt erneut diesen Weg zu beschreiten, zwingt jedoch die Parlamentarier und umso mehr das von ihm repräsentierte Bundesvolk dazu, der Bundesregierung oder – das ist richtiger – den Organen der EU, insbesondere deren Rat, einen Blankowechsel für ihre künftige Rechtssetzung auszustellen.

Im Sinne einer fairen Kritik will ich gewiß konzedieren, daß es angesichts der Unüberschaubarkeit des Vertrages von Amsterdam, der auf nationale Verfassungen und Kompetenzverteilungen keine Rücksicht nimmt, kaum gelingen könnte, alle Bestimmungen taxativ aufzulisten, die unserem BVG zuwiderlaufen. Diese rein pragmatische Rechtfertigung für das aus rechtstechnischer Not geborene Abweichen vom ordnungsgemäßen Procedere, das unsere Verfassung vorzeichnet, darf aber den Blick auf einen zentralen Kritikpunkt nicht verstellen.

Bei diesem Vertragswerk handelt es sich um ein dermaßen undurchsichtiges rechtliches Gebilde, daß man sich an die Rechtsunklarheit im ausgehenden Heiligen Römischen Reich erinnert fühlt, das den Naturrechtler Samuel Pufendorf zu seiner bezeichnenden Charakterisierung "monstro simile" veranlaßte.

Daher scheint es mir eher der Not als der Tugend entsprungen zu sein, wenn es im Bericht weiters heißt: Ebenso wird von einer rangmäßigen Einordnung des Amsterdamer Vertrages oder einzelner in ihm enthaltenen Bestimmungen abgesehen. – Denn es muß in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, daß der Europäische Gerichtshof den Anwendungsvorrang des EU-Rechts so extensiv – um nicht zu sagen: exzessiv – versteht, daß dieses sogar jeglichem nationalen Verfassungsrecht vorgeht.

In mehreren anderen Mitgliedstaaten haben die Verfassungen gegenüber einem solchen überzogenen Geltungsanspruch klare Grenzen gezogen oder haben zumindest die Verfassungsgerichte, so insbesondere das deutsche Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Erkenntnis, judikative Integrationsschranken errichtet. Nichts dergleichen hat sich Österreich vorbehalten und sich damit der EU auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich meine erste kritische Zwischenbilanz ziehen: Erneut haben wir ein Sonderverfassungsgesetz vor uns, das als Lex specialis einzig und allein für den Abschluß des Vertrages von Amsterdam das reguläre Ratifizierungsverfahren nach den Artikeln 50 und 44 B-VG außer Kraft setzt.

Mit meinem Klubkollegen Dr. Brauneder lehne ich es zwar trotz aller Kritik an der gewählten legistischen Konstruktion ab, von einem Ermächtigungsgesetz zu sprechen, die Einstufung als Anlaß- oder Maßnahmengesetz kann ich aber der hier zu behandelnden Vorlage keinesfalls ersparen. Ebensosehr stimme ich seiner substantiellen Kritik zu, daß unser Gesetzgeber nach dem bereits zitierten Eingeständnis im Bericht des Verfassungsausschusses bis heute keine institutionellen Vorkehrungen dafür getroffen hat, das von der EU geschaffene Primärrecht in einer unserer Bundesverfassung entsprechenden Weise in die österreichische Rechtsordnung einzugliedern.

Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Mit der aufgezeigten Lücke in unserem Verfassungsrecht rüge ich die mangelnde Kompatibilität unserer Verfassung mit dem EU-Recht, also ihre unzureichende Aufnahme- und Umsetzungskapazität für dieses – ein Manko, das eben bei jedem weiteren wesentlichen Integrationsschritt zu einer Blankoermächtigung der Bundes


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