Bundesrat Stenographisches Protokoll 651. Sitzung / Seite 62

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Nun teile ich keineswegs die dem früheren Bundeskanzler, Herrn Dr. Franz Vranitzky, vielleicht zu Unrecht – zugeschriebene Ansicht –, daß jemand des Arztes bedürfe, der Visionen hat. Denn Visionen dürfen ja nicht mit Halluzinationen verwechselt werden. (Beifall bei den Freiheitlichen.)

Politische Visionen und soziale, vielleicht sogar sozialromantische Utopien vermögen ja durchaus politisches Handeln anzuleiten. Ich bin bei meiner ganzen persönlichen Einstellung gewiß kein Anhänger eines kruden Vergeltungsstrafrechts im Sinne des Talionsprinzips oder des "fiat iustitia pereat mundus". Umgekehrt lehne ich es aber auch entschieden ab, den Gedanken der Rechtsbewährung, also der Bewährung der staatlichen Rechtsordnung, in abschätzigem Sinne als bloße "Law and Order"-Mentalität abzutun.

Mit diesen einleitenden und nach beiden Richtungen hin abgrenzenden Vorbemerkungen sollte nur unsere grundsätzliche Position dargestellt werden, von der aus wir diesen bislang gravierendsten und folgenreichsten Eingriff in unser geltendes Strafrecht – ich versage mir die polemische Wendung: diesen Anschlag auf unser gesamtes Strafrecht – äußerst kritisch beurteilen. Diese im Titel so harmlos klingende "Strafprozeßnovelle 1999" wurde im Zuge der Debatte im Nationalratsplenum von ihren Apologeten geradezu als Meilenstein der Strafrechtsentwicklung bezeichnet.

Worin besteht nun dieser angeblich so große Fortschritt? – Ich frage Sie: in der dadurch ermöglichten völligen Aufweichung und Erosion unseres heutigen Strafrechts, zumindest im Bereich der mittelschweren Kriminalität? – Damit gelange ich aber auch schon zum ersten, durchaus schwerwiegenden Kritikpunkt. Er betrifft das völlig überzogene Ausmaß der Ausweitung des schon heute praktizierten Außergerichtlichen Tatausgleichs. Insofern verstehe ich es auch nicht, wenn unserem Justizsprecher Dr. Harald Ofner entgegengehalten wurde, daß er doch vor Jahren als damaliger Justizminister der Einführung dieses Institutes Pate gestanden war und jetzt als sein scharfer Kritiker auftritt. In der Tat ehrt es Ofner, daß er diesen Pilotversuch unternommen hat. Aber auf welchem Gebiet hat er ihn gewagt? – Auf jenem des Jugendstrafrechts. Und da hat es sich auch voll bewährt. Aber Jugend strafrecht unterscheidet sich eben vom Erwachsenen strafrecht in einem recht grundsätzlichen Punkt. Es ist in erheblichem Maße immer noch eine Art Erziehungs recht. Dieser Charakter kann trotz aller Tendenz zur Resozialisierung, die wir teilen, dem Erwachsenenstrafrecht so nicht zugebilligt werden, weil es dabei eben – soweit es sich nicht um abnorme bis zurechnungsunfähige Rechtsbrecher handelt – um Straftaten sogenannter mündiger Bürger geht.

Dessen ungeachtet räume ich ein, daß von Anfang an die Hoffnung bestand, den Außergerichtlichen Tatausgleich im Falle seiner Bewährung im Jugendstrafrecht in vorsichtiger Weise auch auf das Erwachsenenstrafrecht ausdehnen zu können. Wir hätten daher trotz der aufgezeigten prinzipiellen Bedenken keinen Einwand erhoben, wenn sich die Ausweitung auf die Kleinkriminalität erwachsener Straftäter beschränkt hätte.

Auch wir sehen keinen Sinn darin, Personen, die einen Verkehrsunfall fahrlässig herbeigeführt oder einen Ladendiebstahl begangen haben oder in einen Raufhandel ohne gravierende Folgen verwickelt waren, gesellschaftlich zu stigmatisieren.

Die vorliegende Novelle ist allerdings über jede vertretbare Dimension hinausgegangen. In Zukunft sollen nämlich Maßnahmen der sogenannten Diversion, also insbesondere auch des Außergerichtlichen Tatausgleichs, bei allen Delikten möglich sein, die einer gesetzlichen Strafdrohung unterliegen, die eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren nicht übersteigt. (Bisher war nach § 42 StGB drei Jahre die Grenze.) Davon sind lediglich solche schweren Delikte ausgenommen, die in die Zuständigkeit von Schöffengerichten fallen oder den Tod eines Menschen zur Folge gehabt haben.

Abgeordnete meiner Fraktion haben vergeblich darauf hingewiesen, daß somit der Anwendungsbereich der Diversion insbesondere auch folgende, nur beispielsweise genannte Straftaten grundsätzlich mitumfassen wird: die Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen; die absichtliche schwere Körperverletzung; das Quälen einer unmündigen jüngeren oder wehrlosen Person; den Schwangerschaftsabbruch ohne Einwilligung der Schwangeren; die Entführung


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