Bundesrat Stenographisches Protokoll 658. Sitzung / Seite 37

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Anlass, die internationale Politik unseres Landes zu beurteilen, zu kritisieren, sich jene Themen herauszugreifen, von denen man meint, dass sie ein höheres Maß an Vordringlichkeit haben. Ich werde mich daher der Versuchung, der mein Vorredner unterlegen ist, zu den Beneš-Dekreten bis zur afrikanischen Entwicklungshilfe je eineinhalb Sätze abzuliefern, versagen und mich auf einen Bereich konzentrieren, der, wie ich meine, von besonderer Bedeutung ist, nämlich die Nachbarschaftspolitik Österreichs gegenüber jenen Staaten, mit denen wir direkt oder mit einiger Entfernung gemeinsame Grenzen haben, die Beitrittskandidaten für die Europäische Union und damit künftige Partner über den geographischen und geschichtlichen Bereich hinaus sind und mit denen wir eine Fülle von Problemen teilen oder sie uns auch gegenseitig machen.

Ich halte es – wenn mir hier jemand Ironie unterstellt, dann möchte ich das energisch zurückweisen – für einen wirklich Fortschritt, dass wir ganz offensichtlich dorthin gelangen, dass die Erweiterung der Europäischen Union um unsere ost- und mitteleuropäischen Nachbarstaaten aus dem tagespolitischen Streit als Thema ausscheidet. Wenn ich gewisse Erklärungen der Freiheitlichen Partei richtig interpretiere, was nie gewährleistet ist, dann haben sich führende Vertreter und auch der Obmann dieser Partei von der noch im Wahlkampf vertretenen Haltung abgewendet und sehen heute in einem Beitritt dieser Staaten nicht nur ein Stück weltgeschichtlicher Gerechtigkeit, wenn man so sagen darf, sondern auch etwas – das haben wir immer gesagt –, was im ureigensten Interesse Österreichs ist.

Die sich in zehn Jahren entwickelnden wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Österreich und diesen Staaten, die Tatsache, dass dieses kleine Land Österreich in vielen und in manchen dieser Staaten in besonderem Maße als Investor an führender Stelle steht – in der Slowakei etwa sind wir nur um zwei oder drei Zehntel Prozent hinter dem doch etwas ökonomisch potenteren Deutschland –, die Tatsache, dass wir natürlich auch gemeinsame geschichtliche Beziehungen haben, die in ihren konkreten Implikationen heute wieder aufleben, macht unser Land zu einem ganz zentralen Angelpunkt im Prozess der Osterweiterung. Und ich sage, wie ich hoffe, retrospektiv: Wir sollten diese politische, ökonomische und auch menschliche historische Chance nicht durch kurzfristig vielleicht nutzbringende – nämlich im eigenen Land –, aber langfristig schädigende Klimavergiftungen gefährden.

Ich glaube – nein, ich weiß es, weil ich dort sehr viele Gespräche geführt habe –, dass wir in diesen Ländern sehr wohl auch für unsere Bedenken, Anliegen und Kritiken Verständnis finden, dass sich die Menschen, vor allem die verantwortlichen Menschen in diesen Ländern sehr wohl der Begrenztheit ihres eigenen Fortschritts bewusst sind. Aber wie so oft – wir Österreicher wissen das auch –, leitet nicht das Kommando eine fruchtbringende Entwicklung ein, sondern das verständnisvolle Sprechen, das auch die Rahmenbedingungen in diesen Ländern mit einschließt.

Es kann überhaupt keine Frage sein, dass der Prozess der Erweiterung der Europäischen Union keinen Rabatt für neue Mitglieder gewähren kann, auch wenn wir, nicht nur von unserer Seite, von Übergangsbestimmungen zu reden haben. Länder, die fünf oder viereinhalb Jahrzehnte unter einem politischen und ökonomischen Regime ganz anderer Ausrichtung zu leben und auch zu leiden hatten, sind nicht von einem Tag auf den anderen in der Lage, ihre Rechtssysteme, ihre Administration und Ähnliches auf den Standard der Europäischen Union umzustellen.

Ich halte es zwar für überzogen, wenn etwa der ungarische Ministerpräsident Orban die Zahl 200 in den Raum stellt, um zu illustrieren, wie viele Ausnahmebestimmungen und Übergangsbestimmungen sein Land in der Europäischen Union brauchen wird, denn das ist sicherlich nicht akzeptabel, weil dann nicht mehr sehr viel Gemeinsames überbleibt, aber es wird Übergangsbestimmungen geben müssen, um diesen Ländern – ich sage es einmal so – eine weiche Landung in dieser gemeinsamen Union zu ermöglichen.

Ebenso selbstverständlich ist – das kommt in dem Bericht auch sehr klar zum Ausdruck –, dass vom österreichischen Standpunkt aus – da wir als unmittelbar angrenzendes Nachbarland mit Recht Bedenken haben, ob ein Sog auf Arbeitskräfte ausgeübt wird – Übergangsbestimmungen und Befristungen in Bezug auf den Arbeitsmarkt und andere Bereiche gefordert werden, was im


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