Bundesrat Stenographisches Protokoll 669. Sitzung / Seite 128

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17.42

Bundesrat Georg Keuschnigg (ÖVP, Tirol): Herr Präsident! Herr Staatssekretär! Hoher Bundesrat! Der vorliegende Autonomiebericht weckt bei uns Tirolern das Bedürfnis, zur Entwicklung Südtirols, wo aus Hass, Zerrüttung und Leid ein blühender Garten Europas wurde, Stellung zu nehmen. Ich darf in aller gebotenen Kürze kurz auf die jüngere Südtiroler Geschichte dieses 20. Jahrhunderts eingehen.

1919 wird Südtirol im Friedensvertrag von Saint Germain Italien zugeschlagen. 1922 übernehmen die Faschisten des Benito Mussolini die Macht und beginnen mit der systematischen Vernichtung der deutschen Minderheit. Es beginnt eine Ära der Unterdrückung, der sozialen Depression und der Hoffnungslosigkeit.

Im Jahre 1922 beginnt auch schon die erste Phase der Italienisierung dieses Landes. Es werden alle deutschen Vereine aufgelöst, es werden alle deutschsprachigen Beamten entlassen, und es wird, was in der Kultur noch viel schärfer wiegt, in den Schulen jeder Unterricht in deutscher Sprache verboten. Damit werden Tragödien ausgelöst; die sechsjährigen Kinder sprechen kein Wort Italienisch und treffen in den Schulen auf Lehrer, die alles Deutsche hassen. Eine ganze Generation lernt die deutsche Sprache nicht mehr in der Schriftform. Es entsteht – etwas verschärft dargestellt – ein deutsches Analphabetentum, es gibt Menschen, die den Komplex, keinen ordentlichen Brief schreiben zu können, Formulare nicht richtig ausfüllen zu können, ein Leben lang mitschleifen. Über Geheimschulen, über die so genannten Katakombenschulen, versucht die deutschsprachige Volksgruppe, dem gegenzusteuern.

Die zweite Phase der Italienisierung beginnt im Jahre 1935 mit der Ansiedlung der italienischen Schwerindustrie, vor allem südlich von Bozen Richtung Leifers. Die Bauern werden enteignet. – Und um das Ausmaß der Provokation, die dabei gezielt erfolgt, beispielhaft darzulegen, möchte ich darauf hinweisen, dass im Spätsommer 1935, wenige Tage vor der Ernte, mehr als 50 000 Obstbäume und Tausende von Edelreben ganz einfach vernichtet wurden, um diese Staatsindustrie anzusiedeln.

Der nächste Schock in der Geschichte Südtirols ist die "Option", das deutsch-italienische Abkommen zur Umsiedlung der Südtiroler. Die Südtiroler Bevölkerung hatte die Option, entweder nach Deutschland auszusiedeln und die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen oder aller Rechte in Italien, also jeden Schutzes der Volksgruppe, verlustig zu werden. – 200 000 Südtiroler haben für das Auswandern nach Deutschland optiert, nur 34 000 wären geblieben. Zum Glück hat der Verlauf des Krieges bewirkt, dass diese unselige Umsiedlung zum größten Teil nicht umgesetzt werden müsste.

Dieses Optionsabkommen löst eine unglaubliche menschliche, politische und wirtschaftliche Katastrophe aus. Mehr als 80 Prozent der Volksgruppe entscheiden sich dafür, die seit Jahrhunderten von ihnen besiedelten Lebensräume zu verlassen und mit der Ungewissheit einer neuen Heimat zu tauschen, für den Preis, die eigene Kultur leben zu können.

Mit diesem Beschluss wurden auch innerhalb der Volksgruppe nachhaltige Probleme produziert, schwere Verfeindungen innerhalb der Südtiroler Bevölkerung begründet, da diejenigen, die dageblieben sind, von jenen, die aussiedeln wollten, als Verräter und Kollaborateure mit dem italienischen Staat verunglimpft worden sind. Noch heute kann man in den Südtiroler Dörfern erfahren, wer zu den "Dableibern" gehört hat und wer für die Option war.

Auf den Trümmern dieser menschlichen und politischen Tragödien ist das heutige Südtirol entstanden. Nur angesichts dieser historischen Fakten können die politischen Leistungen der Nachkriegsgenerationen tatsächlich ermessen werden.

1948 kam das erste, völlig unbefriedigende Autonomiestatut. 1969 kam dann das Südtirolpaket mit 137 Maßnahmen zum besseren Schutz der Südtiroler Volksgruppe.

Aber erst im Jahre 1988 – ich sage das ganz bewusst, um darauf hinzuweisen, wie jung diese Geschichte ist, es ist alles erst wenige Jahre her und noch immer ein Prozess, der im Laufen ist – kam die Sprachengleichstellung bei Ämtern und Behören und 1992 die formelle Streitbei


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