Bundesrat Stenographisches Protokoll 696. Sitzung / Seite 70

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und erste Kanzler der Republik Österreich, Renner, der wirklich kein Freiheitlicher, wirklich kein Christlich-Sozialer, sondern ein waschechter Sozialist war.

Ich sehe also einen gewissen Nachholbedarf auf der sozialdemokratischen Seite, dieses The­ma, das in den ersten 20, 30 Jahren der Zweiten Republik noch kein Thema war, zu über­tünchen und jetzt sozusagen auf der Überholspur anzusetzen.

Ich erkenne in Ihren Aussagen einige doch nicht ganz gerechtfertigte Bemerkungen. Sie zitieren ihn nicht, aber Sie nennen meinen Freund, Volksanwalt Stadler. Stadler stammt selbst aus einer Familie, die in den letzten Kriegstagen durch Übergriffe der damaligen politischen Kompetenzen ein Menschenleben im engsten Familienkreis zu beklagen hatte, also er ist meines Erachtens wirklich ein Fehlbeispiel dafür, hier zitiert zu werden. Das heißt natürlich nicht, dass er nicht frei reden und seine eigene Meinung vertreten kann!

Oder: die burschenschaftliche Trauerfeier am Heldenplatz, an der ich auch heuer teilgenommen habe, liebe Freunde, Kolleginnen und Kollegen! Selbstverständlich haben wir alle das Recht, unserer Toten zu gedenken, das ist nicht nur auf eine Gruppe bezogen! Das ist keine Salonfähigmachung einer Meinung, sondern der Toten zu gedenken, sollten wir gemeinsam nachkommen. – Aber am 5. Mai einer Gruppe zu gedenken, das ist zu wenig. Gedenken wir doch aller Toten, unter welchen politischen Regimen, unter welchem Bombenhagel auch immer, in welcher Gefangenschaft, unter welcher Malträtiertheit auch immer sie ums Leben gekom­men sind: Gedenken wir derer doch endlich gemeinsam!

70 000 tote Juden sind zu viel, aber ebenso zu viel sind 330 000 andere Österreicher, die zwischen 1933 und 1955 ums Leben gekommen sind, Herr Professor! (Beifall bei den Freiheit­lichen und bei Bundesräten der ÖVP.)

Gedenken wir einmal gemeinsam aller Toten! Das ist mir ein Anliegen. Wenn wir das Anliegen vielleicht gemeinsam vertreten – vielleicht haben Sie es nur ganz schüchtern angesprochen, nicht direkt ausgedrückt; Sie sind aber nicht so schüchtern, Herr Professor, das weiß ich schon, aber das könnte man daraus schließen –, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Sie kommen auf den richtigen Weg, Herr Professor! Sie sind noch nicht ganz dort, aber Sie kommen dorthin! Schließen Sie sich einem gemeinsamen Totengedenken an!

Frau Vizepräsidentin Haselbach hat den besonderen Bezug der Juden zu ihren Gräbern erwähnt. Es ist ein allgemeines Gut von Kulturvölkern, ihrer Toten zu gedenken, und es haben alle anderen Toten das gleiche Recht, dass ihrer gedacht wird, wie es die einen Toten haben. Es gibt keine auserwählten Toten, und wir müssen auch in unserer Republik 58 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg endlich davon wegkommen, nur einer Gruppe von Toten zu gedenken. Zu viele Tote hat es in allen Familien gegeben. Ich möchte eine Familie kennen, die, bedingt durch die verschiedensten politischen Umstände und auch den Krieg, nicht selbst Tote zu beklagen gehabt hat!

Da Sie die Kultusgemeinde angesprochen haben: Das ist eine wichtige Einrichtung. Aber warum war die Kultusgemeinde zur Zeit des von mir besonders geschätzten Paul Groß so ruhig geführt? Warum ist jetzt die Kultusgemeinde so oft in Diskussion? Sie hat ein reiches kulturelles Leben entwickelt durch die Möglichkeiten, die die Frau Bundesministerin aufgezeigt hat, die derzeit auch rechtliche Gültigkeit haben, aber diese Aufgeregtheit war früher nicht vorhanden.

Es gelingt dem derzeitigen Leiter der Kultusgemeinde wahrscheinlich, eine gewisse Aufge­regtheit hereinzubringen, die möglicherweise – ich behaupte es einmal – der Sache nicht immer sehr dienlich ist. Wer sagt, dass es nur eine Kultusgemeinde geben muss? – Im Religions­gesetz steht nichts von einer Kultusgemeinde. Die Frau Bundesministerin weiß es wahrschein­lich genauso gut wie ich; und sie schmunzelt schon ein bisschen. Es gibt einen Rabbiner namens Friedmann, der darum kämpft, seiner eigenen Kultusgemeinde mit orthodoxen Juden Rechtsgültigkeit zu geben. Er kämpft darum. Er ist zum Verwaltungsgerichtshof gegangen, und das Verfahren ist anhängig.

 


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