Bundesrat Stenographisches Protokoll 715. Sitzung / Seite 55

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„Wo bleibt Euer Aufschrei?“ Und weiters: „In der globalen Wirtschaft herrscht die pure Anarchie. Die Gier zerfrisst den Herrschern ihre Gehirne.

Wo bleibt der Aufschrei ... der Kirchen“, der Parteien, „gegen ein Wirtschaftssystem, in dem große Konzerne gesunde kleine Firmen wie Kadus im Südschwarzwald mit Inven­tar und Menschen aufkaufen, als wären sie Sklavenschiffe aus dem 18. Jahrhundert, sie dann zum Zwecke der Marktbereinigung oder zur Steigerung der Kapitalrenditen und des Börsenwertes dichtmachen und damit wirtschaftliche Existenz von Tausenden mitsamt ihren Familien vernichten?“

Von wem, glauben Sie, stammt dieses Zitat? – Von Heiner Geißler, der zwölf Jahre lang CDU-Generalsekretär war.

Genau um die hier angesprochenen Fragestellungen geht es auch in der Außenpolitik, auch um eine inhaltliche Wertorientierung in der Außenpolitik, die wir jedoch bisher bei Ihnen von der ÖVP nicht bemerkt haben.

Herr Bundeskanzler! Allein die Tatsache, dass Sie heute persönlich vor dem Bundesrat eine Erklärung anlässlich Ihrer Regierungsumbildung abgegeben und uns Ihre neue Außenministerin vorgestellt haben, zeigt ganz offensichtlich, wie wichtig für Sie in Ihrer zweiten Amtsperiode Außenpolitik ist, wie viel diese an Gewicht bekommen soll, jeden­falls eine Bedeutung, die für uns Sozialdemokraten Außenpolitik schon immer hatte. Und ich nenne da beispielsweise nur die Namen Schärf, Kreisky und Kirchschläger.

Herr Bundeskanzler, es geht nicht ums Dabeisein bei Kommissionen, es geht nicht um das Mitwirken in Gremien, sondern es geht in erster Linie um inhaltliche Orientierun­gen, und es wäre daher zu wünschen, dass die österreichische Außenpolitik in Zukunft wieder andere Schlagzeilen produziert als die bei Auslandsreisen verursachten Kosten für Photographen und Hüte. (Rufe bei der ÖVP: Geh, bitte!)

Eine Regierungsumbildung und eine neue Personenverantwortung gäben Anlass zur Hoffnung, dass nun die Chance besteht, neue inhaltliche Orientierung zu geben – und nicht noch einmal dasselbe zu zelebrieren. Herr Bundeskanzler, Sie haben über das Halbzeit-Programm für den Rest dieser Legislaturperiode referiert und dabei auch von „sozialer Wärme“ und einer „leistungsfähigen Wirtschaft“ gesprochen. – Dazu kann ich nur sagen: Wenn ich an die vielen, vielen Belastungen, die in der ersten Etappe Ihrer Regierungszeit den Österreicherinnen und Österreichern verordnet wurden, denke, läuft es mir kalt über den Rücken, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, jetzt von „sozialer Wärme“ sprechen.

Diese Wortwahl trägt insofern einer Stimmungslage Rechnung, als sie von einer gegenteiligen Politik abzulenken versucht. Was Heiner Geißler so schonungslos und offen als einen Wutanfall in der Beurteilung der europäischen Politik bezeichnet und gefragt hat: „Wo bleibt Euer Aufschrei?“, sollte sozusagen ein Warnschuss sein, ein Hinweis in Richtung Neuorientierung der europäischen Politik. (Vizepräsident Mag. Pehm übernimmt den Vorsitz.)

Ihre politische Gesinnung, Herr Bundeskanzler, ist, was den christlichen Humanismus anlangt, sicherlich vom selben Ursprung geprägt wie der eines Heiner Geißler. Daher: Wenn Sie von „sozialer Wärme“ sprechen, kann man nur hoffen, dass damit auch gemeint ist – was Sie ja öfters zu tun vorgeben –, den europäischen Wohlfahrts- und Sozialstaat zu verteidigen. Aber: Das Verteidigen des europäischen Sozialmodells bedarf konkreter Handlungen und Neuorientierungen, denn eine Demontage erfolgt auch durch ganz andere dynamische Entwicklungen.

Meine Damen und Herren! Europa ist weltweit die einzige Region in der Welt – ver­glichen mit den USA, China, Südamerika, Australien, Asien –, die einen hohen sozialen Standard, auch wenn er step by step zu reduzieren versucht wird, zu verteidigen hat.


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