Bundesrat Stenographisches Protokoll 724. Sitzung / Seite 28

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denen Europas nicht immer identisch ist mit jenen Staatsgrenzen, die gezogen wurden, weshalb auch grenzüberschreitende Kooperationen wichtig sein werden.

Gerade in der Situation, wo Europa heute ins Gerede gekommen ist, sollte man auch die Frage und die Initiative in Richtung einer stärkeren Ausprägung Europas als Gemeinschaft, in der sich auch Regionen rechtlich gesichert und rechtlich möglich entwickeln können, ins Auge fassen. Denn ich glaube, dass das alte System in Europa, das wir bis zu den jetzt durchgeführten Volksabstimmungen über den Europäischen Verfassungsvertrag gehabt haben, in Wirklichkeit vorbei ist, denn mit dem zweifachen Nein, von Frankreich und von Holland, haben die Bürger signalisiert, dass sie mit der Entwicklung einer Europäischen Union, die weitestgehend über die Köpfe hinweg und ohne wirkliche Einbindung der Bürger ihre Schritte setzt, nicht mehr einverstanden sind.

Europa muss zur Kenntnis nehmen, dass ein Europa ohne Bürger nicht möglich ist und dass 450 Millionen Menschen natürlich auch das Recht haben, in einem gemeinsamen Europa mindestens jene demokratischen Mitwirkungsrechte ausüben zu können, die sie in ihren eigenen Nationalstaaten vorfinden und die ihnen dort verfassungsmäßig garantiert sind.

Gerade die Diskussion der letzten Wochen und Monate über den Weg: Wohin geht Europa?, hat natürlich auch gezeigt, dass die Trennlinien ziemlich scharf geworden sind. Es sind im Grunde genommen alte Konflikte innerhalb Europas aufgetaucht: auf der einen Seite die Neoliberalen, auf der anderen Seite die Altsozialen bis Alt­sozialisten; auf der einen Seite die Erweiterungsfreunde, auf der anderen Seite die Grenzzieher; auf der einen Seite die Marktfundamentalisten, auf der anderen Seite die Staatsfetischisten; auf der einen Seite die Reformer, auf der anderen Seite die Bremser. Es ist also ein Europa der Konfrontationen und der Trennlinien entstanden, obwohl die Wirklichkeit eigentlich ein bisschen anders und Europa viel bunter, viel vielschichtiger ist – auch was die Einschätzungen seiner Entwicklungschancen betrifft.

Ich glaube daher, dass diese negativen Ergebnisse der Volksabstimmung zum Ver­fassungsvertrag eine Riesenchance für Europa sind, einen Neubeginn zu setzen, und zwar einen Neubeginn nicht in dem Sinn, dass alles über Bord gehen muss, was bisher vertraut und lieb gewesen ist, sondern in dem Sinn, dass man dieses Europa in seiner verfassungsmäßigen Struktur, in seiner inneren Verfasstheit, auch was das Zusam­menwirken mit den Regionen betrifft, neu andenkt und neu beurteilt – denn man kann diese Chance wahrnehmen, um aus Fehlern zu lernen!

Es ist das eine Riesenchance, wieder im Geiste der Gründer dieses Europas Aufbau­arbeit zu leisten, denn das Europa, das wir heute vorfinden, entspricht nicht dem, was sich Adenauer, de Gaulle oder Robert Schuman vorgestellt haben – ihre Vision von Europa war eine andere!

Wenn man bedenkt, dass über Jahrhunderte gerade im kerneuropäischen Raum starke militärische, kriegerische Auseinandersetzungen stattgefunden haben, dass allein zwischen 1870 und 1945 Deutschland und Frankreich dreimal miteinander Krieg geführt und damit ganz Europa hineingezogen haben, ist es verständlich, dass an der Wiege des neuen Europas nach 1945 primär der Wille zu einer friedlichen Entwicklung gestanden ist, dass diese Sehnsucht der Menschen enorm gewesen ist.

Robert Schuman hat das ja am 9. Mai 1950, sozusagen in der Geburtsstunde der europäischen Bewegung, gesagt, wenn er sagte: Europa ist nicht zustande gekom­men, denn wir haben ja Krieg gehabt. Daher konnte Europa nicht werden, wenn man im Inneren gegeneinander Krieg führt.

 


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