BundesratStenographisches Protokoll819. Sitzung / Seite 20

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anderer Personen nicht beeinträchtigt. In keinem Fall kann Religion dazu missbraucht werden, Übergriffe gegen Leib und Leben zu rechtfertigen.

Leider ist das auch in Europa weit weniger selbstverständlich, als man annehmen möchte. Nicht nur kleine Sekten geraten immer wieder in die Schlagzeilen, weil die Sektenführer Mitglieder zu sexuellen Handlungen nötigen oder in den Selbstmord trei­ben. Auch jahrhundertealte, religiös begründete Traditionen wie etwa die Beschnei­dung von Mädchen stellen nicht akzeptable Verletzungen des Grundrechts auf körper­liche Unversehrtheit dar und können sich keinesfalls auf Religionsfreiheit berufen. Mit der verstärkten Einwanderung aus Afrika ist die Genitalverstümmelung auch in Europa zum Problem geworden.

Eine gewisse Kontrolle religiöser Aktivitäten durch einen demokratischen Staat ist also nötig, um Religionsfreiheit der Einzelperson zu garantieren. Denken wir dabei auch an die katholische Kirche und an die vielen Fälle von sexuellem Missbrauch, die von kirch­lichen Vorgesetzten gedeckt und vertuscht worden sind.

Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beginnt mit den bekannten Worten: „Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“. – Die Realität sieht jedoch besonders für die Angehörigen religiöser Minderheiten in vielen Ländern dieser Erde anders aus.

Grundsätzlich gilt es, für die Anhänger aller Religionsgemeinschaften einzutreten, weil Religionsfreiheit eine Sache der Menschenwürde ist. Nicht nur Staaten, sondern Teile der Gesellschaft wie Religionsgemeinschaften, Warlords, Terrorgruppen treten als Tä­ter auf. Macht und Kontrollbestrebungen, Korruption, Angst oder Hass treiben diese dazu, die Freiheit von AnhängerInnen anderer Religionen oder Konfessionen sowie Religionskritikern zu beschneiden. Die Mittel dabei reichen von Hetze in der Öffent­lichkeit und Indoktrination über bürokratische Schikanen und einschränkende Straf­rechtsbestimmungen bis hin zu körperlichen Angriffen und Mord.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zweifelsohne sind viele Christen in aller Welt von Verletzungen der Religionsfreiheit massiv betroffen. Mein Vorredner hat bereits ei­nige Staaten aufgezählt, auch Staaten wie Nigeria, Iran, Irak, Ägypten, China oder Eri­trea gehören dazu. Die Gründe für die Verfolgung sind so unterschiedlich wie die Län­der, in denen sie stattfinden, aber wo Christen bedrängt werden, werden typischerwei­se auch andere Religionsgruppen bedrängt.

Im Irak stehen nicht nur Christen, sondern beispielsweise auch Jesiden massiv unter Druck. In Ägypten denken wir zu Recht an die Diskriminierung der Kopten. Vergessen wir aber nicht, dass dort beispielsweise die Bahai ebenfalls einen sehr schweren Stand haben. Erst recht gilt das für den Iran. Dort sind die Bahai wohl die am meisten verfolgte Gruppe. In Usbekistan sind es die Zeugen Jehovas, aber auch viele Christen, insbesondere Konvertiten, werden dort diskriminiert und verfolgt. Dabei ist es sinnvoll, innerhalb der Christen zu differenzieren. Es trifft oft besonders stark protestantische Gruppen, weil diese im Nahen Osten als westliche Missionskirche gelten und oft mit dem verhassten Amerika assoziiert werden.

Das heißt, ein Schlagwort wie „Christenverfolgung“ steht für ein sehr komplexes Phä­nomen. Wir sollten grundsätzlich von der Perspektive der Menschenrechte ausgehen, Solidarität verdienen alle verfolgten Menschen.

Tatsächlich zeigen sich heute in vielen islamischen Staaten in Sachen Religionsfreiheit schwere Defizite. Allerdings sollte man daraus nicht falsche Schlussfolgerungen ziehen und das Thema Religionsfreiheit in einen „Kampf zwischen Kulturen“ umdeuten, wo­nach Christen grundsätzlich Opfer und Muslime die Verfolger sind. Das führt in die Irre. In islamisch geprägten Gesellschaften werden auch viele Muslime wegen ihrer Reli-


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