BundesratStenographisches Protokoll845. Sitzung / Seite 61

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Es ist an der Zeit, ein realistisches Bild von der gegenwärtigen Lage zu gewinnen, ohne gleich in Hysterie zu verfallen. Wir müssen begreifen, dass wir am Beginn einer Entwicklung stehen, die das Potenzial zu einem Jahrhundertproblem hat – vergleichbar mit Klimawandel, Umweltzerstörung und Weltbevölkerungsexplosion.

Untrügliches Indiz für die Größe eines Problems ist, dass die Politik dieses nur mit Fingerspitzen anfasst. Es besteht eine große Scheu, die Dinge beim Namen zu nennen. Man spricht von massenhaftem Asylmissbrauch statt vom Beginn einer Völker­wanderung. Die Politik begnügt sich im Wesentlichen mit der Organisation von Flüchtlingsunterkünften. An den Kern des Übels will sie sich nicht heranwagen, weil andernfalls zentrale Inhalte der bisherigen Politik in Frage gestellt und verändert werden müssten. Die Verantwortungsträger befassen sich lieber mit Zweit- und Dritt­rangigem, da dort schneller Erfolge zu erzielen sind. Das Missverhältnis wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, welch unerhörte Kraftanstrengungen für das ver­gleichs­weise kleine Griechenlandproblem gemacht wurden.

Das für unsere Zukunft viel wichtigere Flüchtlingsproblem wurde nie seiner Bedeutung entsprechend behandelt. Die Diskussionen blieben und bleiben an der Oberfläche: Unterbringung, Taschengeld, Grenzschließung, Abschiebung – all das haben wir ohne­hin jetzt schon in den vorangegangenen Redebeiträgen gehört. Wenn man dieses Problem in seiner ganzen Tragweite anpacken will, sind Weitsicht, Mut, Ehrlichkeit und Entschlusskraft vonnöten, und da sehe ich – egal, welche Fraktion, egal, welcher ideologische Background – den Befund einer Fehlanzeige.

Völkerwanderungen gibt es seit Beginn der Menschheitsgeschichte. Die gegenwärtige Form der Migration hat jedoch Besonderheiten. Erstens gab es noch nie gleichzeitig so viel Bedrohliches für so viele Menschen.

Zweitens hatten die Bedrohten noch nie so viel Kenntnis über die ungerechte Vertei­lung der Güter auf dieser Erde: bittere Armut auf der einen Seite und überbordender Reichtum auf der anderen Seite.

Drittens war es noch nie so einfach, von einem Erdteil in den anderen zu gelangen. Kommt all das zusammen, dann sind Massenwanderungen die logische Folge.

So einfach diese Analyse ist, so schwierig ist die Ursachenbekämpfung. Klar ist nur, dass es strategisch ohne Wert ist, sich an den unerfreulichen Symptomen der Flücht­lingsströme abzuarbeiten, ohne gleichzeitig den Versuch einer Ursachenbeseitigung zu unternehmen. Bei der Suche nach den Fluchtursachen fällt sofort auf, dass die mit Abstand meisten Flüchtlinge aus jenen Ländern kommen, die die letzten 20 Jahre – und manche der Vorredner haben es schon angesprochen – Schauplätze von Kriegen waren, wie zum Beispiel das ehemalige Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Syrien, Äthiopien, Somalia und so weiter. Kennzeichnend für all diese Kriege waren die ge­nann­ten Militärinterventionen durch die USA und ihre Bündnispartner, die völkerrechts­widrig waren. Das legt die Annahme nahe, dass diese Kriege die Hauptursache für die großen Fluchtbewegungen der Gegenwart darstellen.

Diese Kriege bedeuten Tod, Verarmung, Verelendung, Anarchie und Zerfall von Gesellschaften sowie religiös motivierte Massaker und Massenflucht. Nie gelang es uns, stabile Demokratien einzuführen oder gar Menschenrechte zu sichern. Ganz im Gegenteil! Zu oft wurden und werden totalitäre Regime als Verbündete des Westens hofiert und gestärkt. Wer also Massenflucht eingrenzen will, muss in einem ersten Schritt militärische Abenteuer unterbinden und Militärbündnisse wie die NATO auf reine Verteidigungsaufgaben zurückführen. Das Gesagte gilt auch für schwelende Konflikt­herde wie im Iran, in Ägypten oder der Ukraine. Wenn auch von dort Flüchtlingsströme einsetzen würden, dann wäre das allein schon wegen des Bevölkerungsreichtums dieser Länder eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes.

 


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