Ja, zugegebenermaßen erfolgte die Zeugeneinvernahme durch den Gerichtshof in höchster Transparenz. Ja, das Urteil wurde gegenüber der Öffentlichkeit verkündet und dargestellt, aber wohl nicht ausreichend erklärt. Sicher fehlte eines: eine Art Krisenmanagement oder Strategie, wie mit massiver öffentlicher und fachlicher Kritik umgegangen wird.
So führte vor zwei Tagen Professor Dr. Alexander Somek, Professor für Rechtsphilosophie und Methodenlehre der Rechtswissenschaften an der Universität Wien, im „Verfassungsblog.de“ aus – ich zitiere –:
„Diese Reflexion spielt mit dem Bild von der hohen Mauer der Institution. Die Menschen – Richterinnen und Richter – haben hinter der Einfriedung des Kollegiums zu verschwinden. Gesichtslosigkeit garantiert Unpersönlichkeit, Unpersönlichkeit garantiert Unparteilichkeit. Der hohe und hoheitliche Charakter bleibt erhalten, wenn man die Entscheidung von oben nach unten kommuniziert und dann schweigt. Jeder Erläuterungsversuch eines Richters gibt zu erkennen, dass konkrete Menschen für die Entscheidungen verantwortlich sind. Das Gesichtslose, Unpersönliche und Unparteiliche des Rechts geht verloren. Das Gericht droht, menschlich – also persönlich und parteilich – zu werden.“
Es ist eine harte, vielleicht etwas überzeichnete, aber dennoch begründete Analyse zum Zustand eines österreichischen Höchstgerichts. Ich möchte daher zwei Anregungen formulieren.
Erstens geht es zunächst um den Sachverhalt, wie ein Erkenntnis entstanden ist, und darum, ob es zu einem entscheidenden Thema verschiedene Rechtsansichten gegeben hat. Dafür sehen die Verfassungen beziehungsweise die darauf beruhenden Gesetze einiger Staaten durchaus ein Instrument vor, nämlich die Darstellung einer Dissenting Opinion, also einer abweichenden Stellungnahme. Das deutsche Bundesverfassungsgerichtsgesetz sieht im § 30 Abs. 2 folgende einfache Anordnung vor:
„Ein Richter kann seine in der Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung oder zu deren Begründung in einem Sondervotum niederlegen; das Sondervotum ist der Entscheidung anzuschließen. Die Senate können in ihren Entscheidungen das Stimmenverhältnis mitteilen.“
Dieser Weg gibt dem Richter Entscheidungsfreiheit, ob er seine abweichende Meinung dem Urteil beischließen möchte, und überlässt dem Senat die Entscheidung, ob er das Stimmverhältnis in der Öffentlichkeit darstellen möchte. Es ist also nicht als eine Mussbestimmung, sondern als eine Kannbestimmung konzipiert.
Von Gegnern der Dissenting Opinion wird eingewendet, dass diese zu einer Schwächung des Gerichts führen würde. Diese Behauptung ist aus der Luft gegriffen. Ein internationaler Vergleich ergibt im Gegenteil vielmehr, dass gerade jene Höchstgerichte, die über die Möglichkeit einer Dissenting Opinion verfügen, eine besonders starke Stellung im Staat innehaben und dadurch in keiner Weise irgendwie geschwächt würden.
Ich meine, dass diese Möglichkeit die Verantwortung des einzelnen Richters schärfen und dessen Unabhängigkeit stärken kann, ohne dass damit die Öffentlichkeit mit völlig unverständlichen juristischen Diskussionen verunsichert werden muss. Auch dies läge jedoch in der Verantwortung des Gerichts und des einzelnen Richters.
Zweitens muss eine Vorgangsweise gefunden werden, wie trotz der Transparenz in der Urteilsfindung mit Kritik, die infolge eines Urteils aufkommt, umgegangen wird, also wie der jeweilige Gerichtshof damit umgeht. Da sind zugegebenermaßen sensible Schritte, sogar Tabubrüche notwendig, aber nur diese können zu einer akzeptierten, transparenten Judikatur führen, wie sie im Jahr 2016 verlangt wird.
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