17.59

Bundesrätin Doris Hahn, MEd MA (SPÖ, Niederösterreich): Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Minister! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Frei nach Humboldt ist Bildung ein Prozess der Individualisierung, durch den der Mensch seine Persönlichkeit ausbilden kann. – Ich glaube, da sind wir uns einig: Dazu gehören Fähigkeiten der Lebens- und Alltagsbewältigung, ein gewisses Maß an Verantwortungsbewusstsein, natürlich auch Eigenverantwortung, auch Kompromiss- und Friedensfähigkeit, Kreati­vität, Selbstbeherrschung und vieles mehr.

Unter genau diesen Gesichtspunkten habe ich mir das Pädagogikpaket nicht nur als Politikerin, sondern auch als Pädagogin und Personalvertreterin ganz genau ange­schaut. Ich muss sagen, meine Kollegin hat die Note 4 minus vergeben, ich würde dazu sagen: Das Gegenteil von gut ist vermeintlich gut gemeint. Ich unterstelle jetzt einfach einmal, dass das Paket prinzipiell gut gemeint war.

Mir geht es nicht um einen Justamentstandpunkt, wie man auf gut Österreichisch sagt, ich halte in diesem Fall nichts von Parteipolitik auf dem Rücken der Kinder oder auch der Eltern oder der Lehrerinnen und Lehrer. Mir und natürlich der Sozialdemokratie allgemein geht es um die bestmögliche Bildung für jedes Kind in unserem Land. Uns geht es darum, dass jedes Kind seine Talente entdecken und dann auch entsprechend entfalten kann. Das passiert nun einmal zu einem großen Teil in der Schule beziehungsweise im Umfeld der Schule. (Vizepräsident Lindinger übernimmt den Vorsitz.)

Daher geht es mir auch in einem hohen Maße darum, dass sich die Pädagoginnen und Pädagogen darauf verlassen können, auch jene Rahmenbedingungen vorzufinden, die genau dafür notwendig sind. (Beifall bei der SPÖ.)

Genau in diesem Punkt mache ich mir große Sorgen. Wir haben es heute schon gehört, aber ich möchte es trotzdem noch einmal sagen, weil mich Folgendes per­sönlich wirklich nachdenklich gestimmt hat: Das Zitat von Herrn Minister Faßmann aus dem Interview im „Standard“ vom 11. Oktober entlarvt ja irgendwo die Politik und ganz besonders die Bildungspolitik dieser Bundesregierung. Ich darf hier noch einmal den Minister zitieren: „Es ist eine politische Entscheidung, wie vieles, was ich entscheiden muss. Nicht hinter jeder politischen Entscheidung gibt es auch eine wissenschaftliche Fundierung.“ (Bundesrat Stögmüller: Das sieht man!)

Das sagt schon einiges aus, und das heißt, Sie geben ganz offen zu, was in Wahrheit dahintersteckt: Es geht bei dem Pädagogikpaket nicht um eine evidenzbasierte Entwicklung unseres Bildungssystems, es geht nicht darum, Bildungschancen für wirklich alle Kinder zu schaffen, sondern es geht schlicht und einfach darum, die eigene, die türkis-blaue Klientel zu bedienen. Es geht darum, Kinder jetzt noch früher als ohnehin schon zu selektieren, ihnen sozusagen einen Stempel aufzudrücken: Du bist es wert, in eine höhere Schule zu gehen, und du bist es eben nicht!

Übrigens: Die Kritik kommt bei Weitem nicht von mir beziehungsweise der Sozial­demokratie allein. Ich habe da nur einige Beispiele (einige Zeitschriften in die Höhe haltend) als Auswahl mitgebracht. Ich darf beispielsweise aus einer Zeitschrift der niederösterreichischen Landeslehrer, nämlich der APS-FCG, zitieren.

Da heißt es: „Die Gewerkschaft der PflichtschullehrerInnen stellt daher fest, dass eine gut geplante Einführung der vorliegenden Teile des Pädagogik Pakets mit allen not­wendigen Begleitmaßnahmen sinnvollerweise erst mit Schulbeginn 2020/2021 erfolgen kann.“

Dann heißt es weiter: „Die Gewerkschaft der Pflichtschullehrerinnen und Pflicht­schul­lehrer weist auch ausdrücklich darauf hin, dass die tagtäglich anfallenden pädago­gischen, sozialen, organisatorischen, religiösen, familiären, sprachlichen, mensch­lichen und gesellschaftlichen Herausforderungen an unseren Schulstandorten mit diesem vorliegenden Pädagogik Paket nicht gelöst werden können.“

Dann geht es weiter mit einer Zeitschrift der PflichtschullehrerInnen, APS: „Im vorlie­gen­den Gesetzesentwurf zum ,Pädagogik Paket 2018‘ wird seitens des BMBWF leider wieder der Fehler begangen, dass auch von uns“ – nämlich der Gewerkschaft – „gefor­derte Maßnahmen wie mehr Autonomie am Standort, zusätzliche Differenzierungs­möglichkeiten, die Rücknahme der 7-teiligen Notenskala oder ein freiwilliges 10. Schuljahr wieder zu rasch umgesetzt werden sollen.“

Und dann heißt es: „Weiters wird von der Gewerkschaft Pflichtschullehrerinnen und Pflichtschullehrer angemerkt, dass die Reihenfolge bei der Umsetzung der sechs Teilprojekte des Pädagogik-Pakets falsch ist und von Seiten des BMBWF nochmals überdacht werden sollte.“

Geschätzte Damen und Herren! Beifall und Begeisterung sehen anders aus, aus meiner Sicht.

Dann gibt es noch die Öfeb, eine Vereinigung von mehr als 350 österreichischen Bildungsforschern und Erziehungswissenschaftern. Sie hat ebenso ihre Kritikpunkte geäußert und übermittelt. Ja, die sind im Grunde nicht einmal ignoriert worden. Ich könnte diese Liste an Kritiken jetzt weiter fortsetzen.

Aber schauen wir uns noch einmal die Maßnahmen des Pakets im Konkreten an! Ich beginne mit den positiven Ausreißern, was schneller geht. Der verpflichtende För­derunterricht ist durchaus positiv zu bewerten – besonders natürlich für jene Kinder, deren Eltern sich vielleicht keine teure Nachhilfe leisten können –, um eben schon im Vorfeld mögliche Lernschwierigkeiten abzufangen.

Positiv ist auch das freiwillige zehnte Schuljahr für möglicherweise AHS-, BMHS-Abbrecher nach dem neunten Schuljahr in der PTS. – So weit, so gut.

Das war es dann aber auch schon mit dem Positiven. Wir haben es schon gehört: Das Wiederholen der Klasse ab der zweiten Klasse Volksschule soll jetzt möglich sein. Darauf muss ich, glaube ich, nicht noch einmal näher eingehen. Prinzipiell muss ich aber schon dazusagen, es wird von zahlreichen Bildungswissenschaftern bestätigt, dass gerade das Wiederholen der Klasse nur in Ausnahmefällen vorkommen sollte. In Wahrheit ist das rückschrittlich. Ich als Pädagogin kann nur bestätigen: Jede Lehrerin, jeder Lehrer, die/der einem Kind schon einmal ein Zeugnis mit einem Nicht genügend in die Hand drücken musste, das dann mit großen Tränen nach Hause schreiten musste, weiß, dass das nicht lustig ist. (Ruf bei der ÖVP: Es gibt ja Vorgespräche!)

Die Ziffernnoten: Dadurch wird aus meiner Sicht die mühsam erkämpfte Schul­auto­nomie wieder eingeschränkt. Ich muss dann schon fragen: Warum lässt man denn die Entwicklungen in diesem Bereich nicht einmal wirken? (Ruf bei der FPÖ: Weil es nicht gewirkt hat!) Es ist ganz klar, wenn man eine bildungspolitische Maßnahme umsetzt, dass es einige Jahre dauert, bis sich etwas etabliert hat. Also die Zeit zu geben, dass es sich etabliert und es dann auch zu evaluieren, glaube ich, das hätte man schon tun können.

By the way: Singapur beispielsweise schafft die Ziffernnoten bis 8 gänzlich ab. Ich glaube, Singapur kann man nicht unterstellen, dass es sich da um linke Kuschel­pädagogik handelt, also in diese Verlegenheit kommen wir da nicht. Singapur hat näm­lich erkannt, dass sich Kinder auf ihren eigenen individuellen Lernfortschritt konzen­trieren sollen und sich nicht dauernd mit anderen vergleichen sollen, denn genau da liegt in Wahrheit der Fokus, dass es nicht auf die Noten und auf den Vergleich ankommt, sondern auf die individuellen Lernfortschritte. Singapur hat das erkannt und reagiert darauf, Österreich nicht.

Stichwort Neue Mittelschule. Das Wort neu im Namen soll gestrichen werden. – Eine aus meiner Sicht sinnbefreite Maßnahme, denn außer Unmengen an Folgekosten für neue Türschilderbeschriftungen und Briefköpfe sehe ich da wirklich keinerlei pädago­gischen Mehrwert. Ganz im Gegenteil! An meiner eigenen Schule beispielsweise hängt das Kürzel NMS auch direkt mit unserem Schulprofil, mit unserem Schulleitbild und auch mit unserer Corporate Identity zusammen. Logo und Leitbild können wir jetzt de facto kübeln, Jahre an Schulentwicklungsarbeit umsonst – ich weiß es nicht! (Zwi­schenruf des Bundesrates Köck.)

Die siebenteilige, siebenstufige Notenskala: Jetzt gibt es halt nicht mehr das Differen­zierungsniveau grundlegend und vertiefend, jetzt heißt es halt Standard und Standard AHS, de facto bleiben es sieben Stufen, weil ja die Noten 1 und 2 im höheren Niveau den Noten 3 und 4 im niedrigeren entsprechen, also wieder nur ein Aus­tauschen eines Schildes, aber noch mit dem schalen Beigeschmack von A- und B-Zug wie in den Siebzigerjahren, denn – und damit komme ich zum nächsten Stichwort, näm­lich den Differenzierungsmöglichkeiten – bisher waren die unterschiedlichen Lern­gruppen ja immer nur zeitlich begrenzt einzusetzen, es war also keine dauerhafte Einteilung in Leistungsgruppen vorgesehen, und zwar aus einem guten Grund: Wenn ich Kinder dauerhaft schubladisiere, sozusagen in gute und in schlechte Kinder, wird das Niveau erfahrungsgemäß eher nach unten denn nach oben nivelliert. Also zurück zur Hauptschule der Siebziger- und Achtzigerjahre, mit dem Hintertürl sozusagen zurück zu A- und B-Zug.

Stichwort Kompetenz- und Potenzialmessungen: Bisher waren diese freiwillig durch­zuführen, jetzt sollen sie verpflichtend werden – und das schon in der dritten Klasse Volksschule unter dem Deckmantel der direkten Rückmeldung an die Eltern zur Bil­dungslaufbahnentscheidung. Was wirklich dahintersteckt, ist klar: Erstens einmal sind es natürlich versteckte Aufnahmeprüfungen für die AHS. Es wird also noch früher selektiert als bisher schon. Und was noch dahintersteckt: Stellen wir uns einmal vor: Was passiert, wenn in einer Klasse herauskommt, dass 50 Prozent der Kinder die Kompetenzen nicht erreichen? – Na dann muss aber die Lehrerin oder der Lehrer ein/e ganz besonders schlechte/r gewesen sein.

Also diese Form des Misstrauens und der Kontrolle von oben haben sich die Leh­rerinnen und Lehrer in Österreich, die an jedem einzelnen Schultag ganz großartige Arbeit in den Klassen leisten, die einen ganz wesentlichen Beitrag für die Persönlich­keits­entwicklung unserer Kinder und Jugendlichen leisten, einfach nicht verdient. (Beifall bei der SPÖ.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Abschließend frage ich Sie: Hat der Sohn einer alleinerziehenden Teilzeit arbeitenden Friseurin denn nicht dieselben Chancen auf die beste Bildung und Ausbildung verdient wie die Tochter des Herrn Generaldirektors?

Dazu braucht es aber natürlich verschiedene Maßnahmen, die im Pädagogikpaket in keinster Weise angegangen werden: den Ausbau einer kostenfreien und im besten Falle verschränkten Ganztagsschule; eine gemeinsame differenzierte Schule für alle 10- bis 14-Jährigen; ein ZweilehrerInnensystem oder Kleingruppen in der Volksschule; zusätzliche Ressourcen für Integration, Inklusion und vieles, vieles mehr.

Ich bitte Sie wirklich eindringlich: Fahren wir mit unserem Bildungssystem nicht in die pädagogische Vergangenheit zurück, tragen wir unser Bildungssystem (Bundesrat Steiner: Wir können kein totes Pferd reiten!) für die Schülerinnen und Schüler, für unsere Kinder und vor allen Dingen für eine moderne und eine solidarische Gesell­schaft wieder zurück in die Zukunft! (Beifall bei der SPÖ sowie des Bundesrates Stögmüller.)

18.10

Vizepräsident Ewald Lindinger: Zu Wort gemeldet ist Frau Bundesrätin Sandra Kern. Ich erteile dieses.