Nationalrat, XX.GP Stenographisches Protokoll 63. Sitzung / Seite 36

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anerkannt. Wenigstens eine Anstandsfrist – soweit man in diesem Zusammenhang von "Anstand" reden kann – hätte man praktizieren sollen.

Mexiko hat als einziges Land wenigstens ein Protesttelegramm an den Völkerbund geschickt, bei dem wir auch Mitglied waren. Das war alles.

Meine Damen und Herren! Lernen wir aus der Vergangenheit! Einige Monate später hat man nicht nur die Besetzung eines Teils der Tschechoslowakei durch Hitler zur Kenntnis genommen, sondern auch mit prominenten Zuschriften zugestimmt. Auch diesbezüglich wäre einmal eine Aufarbeitung angebracht. – Warum?

Meine Damen und Herren! Es geht mir nicht darum, leichtfertig ein Urteil über die Vergangenheit zu fällen, sondern darum, dafür zu plädieren, daß wir aus der Vergangenheit lernen. Diese Dinge muß man mit größter Nüchternheit und größtem Realismus behandeln.

Ich wundere mich daher auch ein bißchen, daß fast jedermann, der zum Verhältnis NATO und Rußland Stellung nimmt, um das Sicherheitsbedürfnis Rußlands besorgt ist. Jeder Staat kann seine Sicherheitstheorie fixieren.

Wer gefährdet eigentlich Rußland sowohl jetzt als auch in überschaubarer Zukunft? – Normalerweise gibt es ein Sicherheitsbedürfnis der mittleren und kleineren Länder. Daher ist es verständlich, wenn Polen und die baltischen Länder alles tun, um den Beitritt zur NATO zu realisieren.

Rußland ist in den gigantischen Schwierigkeiten der Umstellung für sich selbst die größte Gefahr. Und dort liegt auch die größte Gefahr für die umliegenden Nachbarstaaten Rußlands.

Ich habe mich immer sehr konsequent – das gilt auch für die Zukunft – für eine massive politische und wirtschaftliche Hilfe für Rußland auf seinem Weg des Umbaus zur Demokratie und zu marktwirtschaftlichen Strukturen eingesetzt; selbst um das Risiko, daß man zu spät entdeckt, daß diese Hilfe letztlich nicht in einem überschaubaren Zeitraum zur Stabilität geführt hat. Rußland ist zu groß und zu wichtig, um nicht auf diesem Weg der Reformen zur politischen und sozialen Stabilität unterstützt zu werden.

Die Geschichte läßt aber auch nicht vergessen, daß nicht die baltischen Länder oder Polen Rußland besetzt haben, sondern in trauter Gemeinsamkeit das nationalsozialistische Großdeutschland und die kommunistische Sowjetunion im Ribbentrop-Molotow-Pakt die baltischen Länder zuerst in Einflußsphären aufgeteilt und sie dann – die einen kamen vom Osten, die anderen kamen vom Westen – besetzt haben. Hunderttausende Bürger dieser Staaten wurden nach Sibirien in den Archipel Gulag gesandt. Noch heute weiß man nicht, wo zwei Staatsoberhäupter der baltischen Länder nach ihrer Verschickung nach Sibirien verschwunden und umgekommen sind. Das heißt, zuerst wird mit Recht von diesen Ländern auf das eigene Sicherheitsbedürfnis und dann erst auf das der anderen gepocht.

Man bekommt auch einen etwas üblen Geschmack, wenn man sich erinnert, daß sowohl bei der Besetzung von Ungarn im Jahr 1956, beim ungarischen Freiheitskampf, als auch bei der Besetzung Prags, beim Prager Frühling, das Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion als Argument für den Einmarsch angeführt wurde.

Welcher politischen oder militärischen Allianz Polen oder andere Länder beitreten, ist nur von Polen, von den Bürgern dieser Staaten und von niemand anderem zu entscheiden. Das sollten wir sehr klar festhalten. (Beifall bei der ÖVP.)

Es wird schon wieder eine Sprache gebraucht, als wenn es selbstverständlich wäre, andere Staaten als Satelliten zu betrachten. Man spricht vom "nahen Ausland", um auf die Außenpolitik dieser Länder Einfluß zu nehmen. Gerade Österreich hat ein eminentes Interesse daran, daß die Souveränität unseres Landes und jedes Landes unserer Größe voll respektiert wird. Ich bin daher sehr froh, daß Außenminister Schüssel in Bonn in seinem sicherheitspolitischen Grundsatzreferat gesagt hat:


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