Nationalrat, XX.GP Stenographisches Protokoll 104. Sitzung / Seite 90

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Dringliche Anfrage

der Abgeordneten Herbert Scheibner und Genossen an den Bundesminister für Landesverteidigung betreffend die Gefährdung der österreichischen Interessen und die Verunsicherung der Bevölkerung in Fragen der Sicherheitspolitik und der Landesverteidigung (3416/J)

Präsident Dr. Heinz Fischer: Wir kommen nun zur Behandlung der Dringlichen Anfrage der Abgeordneten Scheibner und Genossen. Diese ist inzwischen an alle Abgeordneten verteilt worden, sodaß sich die Verlesung durch einen Schriftführer erübrigt.

Die Dringliche Anfrage hat folgenden Wortlaut:

"Die Ausgangslage am Ende des Ost-West-Konflikts

Der Zerfall der kommunistischen Herrschaft in Ost- und Ostmitteleuropa sowie das Zusammenbrechen der Sowjetunion haben die sicherheitspolitische Lage in Europa grundlegend verändert. Durch das Ende der früheren Bipolarität der Weltmachtbeziehungen, dem sogenannten Ost-West-Konflikt, zeichnete sich der Beginn einer neuen Ära des Friedens und der Prosperität ab. Die Euphorie von 1990 (Charta von Paris) ist aber mittlerweile verflogen. In Europa brachte bislang das Ende des Kalten Krieges nicht den erwarteten Beginn einer Ära der Stabilität und Sicherheit. An die Stelle der gesamteuropäischen und militärischen Konfrontation der Nuklearmächte sind regionale und lokale militärische Auseinandersetzungen getreten.

Dies führt zu dem Schluß, daß konventionelle Kriege in Europa wieder möglich geworden sind. Am anschaulichsten wurde das am Beispiel des ehemaligen Jugoslawien oder auch einiger Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion deutlich. Dabei offenbarten sich Konflikte und Krisenzonen, die unter den Konditionen der (übergreifenden) Ost-West-Konfrontation zum Teil verdrängt oder unterdrückt wurden. Nunmehr an die Oberfläche gelangt, bilden sie einen potentiellen Zündstoff für den Frieden dieses Kontinents.

Europas sicherheitspolitische Situation ist somit gekennzeichnet vom Übergang von einem sogenannten ,high risk – high stability‘ zu einem ,low risk – lower stability‘-System. Diese neue sicherheitspolitische Lage bedingt die Notwendigkeit, die bisherige Sicherheitsarchitektur von Grund auf neu zu überdenken. Vor allem im Hinblick darauf, daß nicht nur die wirtschaftlichen, politischen, kulturellen oder auch militärischen Verflechtungen und Abhängigkeiten stetig zunehmen, sondern ebenso Bedrohungen, Gefahren und Krisen grenzübergreifend wirken, ist Sicherheit nicht im Alleingang und gegen andere, sondern nach Meinung vieler Experten nur noch kollektiv und gemeinsam erreichbar.

Was für Europa seine Gültigkeit besitzt, ist in erhöhtem Maße auch für Österreich gültig, vor allem wenn man bedenkt, daß der technische Fortschritt der Waffensysteme insbesondere Kleinstaaten sichtlich überfordert. So ist für sie etwa der Aufbau eines eigenen Raketenabwehrsystems und Maßnahmen zum Einsatz oder der Abwehr von elektronischen Kampfmitteln (Satellitenaufklärung, elektronische Aufklärungssysteme, Störsender et cetera ...) sowie die Bereitstellung von rasch verfügbaren Krisenreaktions- und Verteidigungskräften – vor allem im Bereich des Luftraumschutzes – völlig undenkbar. Die Annahme einiger österreichischer Regierungspolitiker, man könne solche Systeme teilweise von anderen Staaten ,leihen‘, ist illusorisch. Sicherheitspolitische ,Trittbrettfahrer‘ werden von keiner Sicherheitsgemeinschaft geduldet werden, wie das Beispiel Deutschlands in der Frage seiner Verpflichtungen (Somalia und Bosnien-Herzegowina) deutlich zeigt.

Die österreichische (Nicht)Debatte

Österreich hat 1955 – nach zehnjähriger Besatzung – durch den Staatsvertrag seine Souveränität wiedergewonnen. Voraussetzung dafür war de facto die Verpflichtung zur dauernden Neutralität. Diese wurde nicht als Staatsideologie sondern als Mittel zur Erreichung eines sicherheitspolitischen Zieles – Wiedererlangung und Bewahrung der Souveränität, Abzug der Besatzer – beschlossen. Seinen aus der Neutralität resultierenden Verteidigungspflichten ist


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