Nationalrat, XXI.GP Stenographisches Protokoll 20. Sitzung / Seite 77

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Unter den Schlagworten ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘, ‚Leistungsgerechtigkeit‘, ‚private Sozialverantwortung‘ werden einerseits Einrichtungen der sozialen Sicherung systematisch abgebaut und ausgehöhlt, andererseits gerade jene Einrichtungen der zivilen Gesellschaft ausgehungert, die in den letzten Jahren staatliche Defizite aufgezeigt und bekämpft haben.

Nicht zufällig hat in der recht kurzen Präambel unter diesem Titel der Missbrauch von Sozialleistungen eine zentrale Stellung, während die von führenden Funktionären der Regierungsparteien wie etwa dem Zweiten Präsidenten des Nationalrates, Thomas Prinzhorn, wortreich beklagte Entwicklung, ‚die Reichen werden reicher und die Armen ärmer‘, im Koalitionsabkommen keine Erwähnung findet.

Die ungleiche und unsoziale Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung scheint für die neue Bundesregierung kein Anliegen beziehungsweise kein Problem darzustellen.

Obwohl die Sozialquote, also der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt, schon seit den Belastungspaketen der SPÖ/ÖVP-Koalition rückläufig ist, plant die FPÖ/ÖVP-Koalition unter Berufung auf ‚die drohende Unfinanzierbarkeit des Sozialstaates und die geringe soziale Treffsicherheit von Transfers‘ (Finanzminister Grasser) weitere Belastungsmaßnahmen im Bereich der sozialen Sicherung.

Nach einer noch nicht veröffentlichten Studie des Wirtschaftsforschungsinstitutes (WIFO) werden allein die geplanten Erhöhungen bei Abgaben, Steuern und Gebühren die Umverteilung von unten nach oben verstärken. ‚Die ärmeren Haushalte sind von den Abgabenerhöhungen etwa doppelt so stark betroffen wie die reicheren‘, heißt es in der WIFO-Studie.

Auf der anderen Seite ist die massive Entlastung von Unternehmen durch die ausschließlich arbeitgeberseitige Senkung von Versicherungsbeiträgen (Unfallversicherung, Arbeitslosenversicherung, Insolvenzentgeltfonds, Krankenversicherung) und andere Maßnahmen nicht zu übersehen. Die Bundesregierung betreibt Umverteilung nach oben.

Die geplanten familienpolitischen Maßnahmen wie das Kinderbetreuungsgeld, mit dem das Karenzgeld ersetzt werden soll, sind Umverteilung zu den Alleinverdienerfamilien ohne Rücksicht auf die viel beschworene ‚soziale Treffsicherheit‘. AlleinerzieherInnen und Frauen, die auch einen Beruf ausüben wollen, passen der FPÖ/ÖVP-Bundesregierung offensichtlich nicht in ihr rigides ideologisches Familienkonzept. Die Bestrafung bestimmter Lebens- und Familienformen soll offensichtlich noch weiter ausgebaut werden: durch die Streichung der Sondernotstandshilfe und des Karenzgeldzuschlags.

Noch nicht genug damit, soll Frauen, die nach der Karenz- beziehungsweise Kinderbetreuungszeit arbeitslos sind, die Möglichkeit zum Bezug von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe genommen werden.

Sozialministerin Sickl versteigt sich sogar zu der Aussage, dass Frauen, die während der Karenzzeit arbeiten gehen, keinen Anspruch auf das Kinderbetreuungsgeld für alle (!) haben sollen, weil sie ‚reich‘ seien, wenn sie über einer bestimmten Grenze ‚dazuverdienen‘. Diese ‚Reichtumsdefinition‘ durch eine Sozialministerin spricht der Person und der dahinterstehenden Regierung die soziale Kompetenz ab.

Die ArbeitnehmerInnen-Interessen werden nicht nur durch die neue Ministerienordnung der Wirtschaft und ihren Interessen unterstellt. Auch die geplanten Maßnahmen im Bereich des Arbeitsrechts, des ArbeitnehmerInnenschutzes sowie die einseitigen Entlastungen von Arbeitgebern in Bereichen der sozialen Sicherung, die bisher solidarisch von Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen getragen waren, sprechen eine deutliche Sprache.

Der Angriff auf die gesetzlichen Interessenvertretungen der ArbeitnehmerInnen, die Arbeiterkammern, zeigt die rücksichtslose Vorgangsweise der Regierung gegen die ArbeitnehmerInnen und ihre Rechte auf. Mit der geplanten Senkung der Arbeiterkammer-Umlage will die Bundesregierung massiv in die Selbstverwaltung der Arbeiterkammer eingreifen – ein einmaliger Akt seit 1945.


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