Nationalrat, XXI.GP Stenographisches Protokoll 36. Sitzung / Seite 197

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aufgehobenen Wortfolgen war die Frist für die Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde gesetzlich bestimmt worden, ohne dass die StPO eine Verlängerungsmöglichkeit vorgesehen hätte. Der VfGH hat insbesondere ausgeführt: "Der im vorliegenden Zusammenhang einschlägige Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK iVm Art. 2 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK garantiert jedem Angeklagten mindestens das Recht, über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu verfügen. Art. 2 des 7. Zusatzprotokolls (BGBl. Nr. 628/1988) normiert das Recht, das Urteil entsprechend dem Gesetz durch eine höhere Instanz nachprüfen zu lassen. Nach unbestrittener Lehre und Rechtsprechung der Straßburger Instanzen gelten die Garantien des Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK auch für den Instanzenzug. Die in Art. 6 Abs. 3 EMRK formulierten Verfahrensgarantien sind in jedem einzelnen Fall zu gewährleisten. Eine (an sich zulässigerweise) am Regelfall orientierte gesetzliche Bestimmung ist auch dann wegen Verstoßes gegen Art. 6 EMRK verfassungswidrig, wenn sie für besondere Extremfälle keine Ausnahmemöglichkeit zur Sicherstellung der in Rede stehenden Verfahrensgarantie bereithält. Es ist offenkundig, dass eine vierwöchige Frist zur Ausführung einer Nichtigkeitsbeschwerde in Extremfällen zu einer Beschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten führen kann. Auch der Gesetzgeber hat in der Rechtsanwaltsordnung in differenzierenden Regelungen auf die unterschiedliche Belastung, die durch die Dauer einer Hauptverhandlung verursacht wird, Bedacht genommen. Mit der Aufhebung der gesetzlichen Bestimmung wird für das Anlassverfahren die Möglichkeit zur richterlichen Festlegung einer den Anforderungen des Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK genügenden Frist zur Ausführung aller angemeldeten Nichtigkeitsbeschwerden eröffnet." Der VfGH hat ausgesprochen, dass die aufgehobenen Bestimmungen im Anlassverfahren nicht mehr anzuwenden sind.

Ob und warum gegebenenfalls die aufgehobenen Bestimmungen, wie in den Individualanträgen, die zur Aufhebung führten, geltend gemacht, auch gegen den Gleichheitsgrundsatz und das Rechtsstaatsprinzip verstießen und welche Schlussfolgerungen sich daraus ergeben würden, hat der VfGH nicht mehr geprüft.

Den Antrag, auch die Wortfolge "binnen vierzehn Tagen" in § 285 Abs. 1 StPO aus denselben Gründen als verfassungswidrig aufzuheben, hat der VfGH wegen fehlender Antragslegitimation zurückgewiesen. Bei dieser Frist handelt es sich um die gesetzliche Frist für die Überreichung der Gegenausführungen zur Nichtigkeitsbeschwerde einer anderen Partei. Der VfGH hat daher nicht darüber abgesprochen, ob auch diese Frist verfassungsrechtlich aus denselben Gründen zu beanstanden ist, deretwegen er die gesetzliche Bestimmung über die Frist für die Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde aufgehoben hat.

Das den Anlass des Erk gebende Strafverfahren ist das bisher größte, jemals in Österreich geführte Strafverfahren gewesen. Der VfGH musste nur beurteilen, ob die vierwöchige Frist zur Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde im Anlassfall die Verteidigungsrechte der antragstellenden Angeklagten verletzte oder nicht. Er hat dem Anlassfall den Regelfall gegenübergestellt, an dem sich eine Fristbestimmung orientieren darf. Dabei ist bemerkenswert, was der Österreichische Rechtsanwaltskammertag in seinem Wahrnehmungsbericht für das Jahr 1998 zur österreichischen Rechtspflege und Verwaltung – gestützt auf die Erfahrungen vieler Rechtsanwälte – ausgeführt hat (Österreichisches Anwaltsblatt 2000, 37): "Die Rechtsmittelfristen in überlangen Verfahren sind vielfach zu kurz bemessen, da es nicht möglich ist, innerhalb der gegenwärtigen Rechtsmittelfrist Protokolle, welche des öfteren mehrere tausend Seiten lang sind bzw. Urteile im Umfang von mehreren hundert Seiten für ein zweckdienliches Rechtsmittel durchzuarbeiten."

2. Die Neuregelung ist Sache des Gesetzgebers. Der VfGH hat offengelassen, auf welche Wiese der Gesetzgeber die Neuregelung verfassungsrechtlich unbedenklich gestalten kann.

Im vorliegenden Entwurf wurde folgender Weg gewählt: Die Frist für die Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde wurde für Durchschnittsfälle unverändert wie bisher mit vier Wochen belassen. Für Fälle, die sich von dem, was man typischerweise als Durchschnittsfall ansehen kann, unterscheiden, wurden die Fristen in zwei Stufen gestaffelt: Die Frist soll zwei Monate betragen, wenn in Strafverfahren an mehr als fünf Tagen verhandelt wurde, und drei Monate, wenn an mehr als zehn Tagen verhandelt worden ist. Diese Regelung greift einen Gedanken auf, der schon im geltenden Recht (§ 16 Abs. 4 RAO) verwirklicht ist.


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