Nationalrat, XXI.GP Stenographisches Protokoll 111. Sitzung / Seite 156

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Ich bitte daher, bei der Beurteilung dessen, was Österreich in seiner Gänze ist, was Österreich getan oder versäumt hat, diese ganze Breite der Elemente mit einzubeziehen.

Es ist auch nicht wahr, dass es, wie der Autor eines morgen erscheinenden Leitartikels behauptet, überhaupt keine Aufarbeitung der Geschichte von 1945 bis 1955 gebe. Wir alle wissen doch, wie es gewesen ist: Österreich ist 1945 eben nicht frei im vollen staatsrechtlichen Sinn gewesen – und Besatzung ist immer etwas Bitteres! Es hatte seine Gründe, warum Julius Raab auch 1955 die Sehnsucht des österreichischen Volkes, die drängende Ungeduld nach der Herstellung der vollen, umfassenden Freiheit zum Ausdruck gebracht hat. Und es hatte seinen Grund, dass die Staatsoper mit "Fidelio" wiedereröffnet wurde und dies auch in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser vollständigen Wiederherstellung von Souveränität und Freiheit stand.

Wenn Sie morgen lesen können, wie Franz Kreutzer, der 1947 als blutjunger Gymnasiast bei der "Arbeiter-Zeitung" angeheuert hat – er ist noch mit dem druckfrischen Maturazeugnis zu dem legendären Oskar Pollack gekommen – und dort als junger Reporter angestellt wurde, als so genannter Russenreporter, der die Aufgabe hatte – und das verdient Respekt! –, in der damaligen schwierigen Situation jeden Tag die Übergriffe zu berichten, die geschehen sind – "Wildost in Wien", "Menschenraub am hellichten Tag" –, dann werden hier Tatsachen vor Augen geführt, die den Betroffenen nur allzu gut bewusst sind.

Und wir wissen genau – jeder von uns hat Bekannte oder Familienangehörige, die diese Zeit erlebt haben, oder er hat Bekannte gehabt oder hat davon gehört –, was geschehen ist. Es war Unrecht! Das hat auch die damalige Regierung gewusst, und sie musste einen Großteil ihrer Arbeit und ihrer Energie darauf verwenden, immer wieder vorzusprechen, Wiedergutmachungen zu erbitten, Freiheit sicherzustellen oder zu ermöglichen. Eine Fülle von in der Öffentlichkeit gar nicht so sehr bekannten Dingen ist da gesetzt worden, Dinge, die jetzt aufgearbeitet worden sind.

Es bedarf aber in der aktuellen Situation nicht des Zurufs, denn ich selbst habe als Außenminister und jetzt auch als Bundeskanzler mit Präsidenten Vladimir Putin Anfang dieses Jahres bei einem Staatsbesuch in Moskau das von mir begonnene und eingeleitete Thema der Rehabilitation von Österreichern abgeschlossen. Vergessen Sie nicht, dass Zehntausenden Österreichern in der Schreckensherrschaft des Stalinismus bitteres Unrecht geschehen ist, die praktisch ihrer zivilen Würde, ihrer Rechte beraubt wurden und die jetzt mit dieser erstmaligen Rehabilitation durch das neue, demokratische System in Russland Wiedergutmachung und eine Wiederherstellung ihrer Ehre erfahren haben.

Ich glaube, dass es auch wichtig und anzuerkennen ist, dass es mit der heutigen russischen Führung möglich war, ein Studienprojekt, "Die Rote Armee 1945 bis 1955", unter Einbindung der wichtigsten österreichischen Wissenschafter in Gang zu setzen, damit auch diese Zeit aufgearbeitet werden kann.

Meine Damen und Herren! Ich sage das deshalb, damit wir uns auch hier der Themen, auch der Tabu-Themen, früherer Zeiten bewusst sind, denn es war nicht immer einfach, darüber zu reden: Es konnte missverstanden werden, es konnte missdeutet werden; manche Opfer haben sich – wie so oft – gescheut, darüber zu reden. Und es ist gut, dass der Schleier der Vergangenheit, des Verdrängens weggerissen wird, dass nichts unter den Teppich gekehrt wird – dass aber auch das, was ist, ausgesprochen wird. Es ist nicht so, dass man etwa die sieben Jahre des Nazi-Terrors mit den zehn Jahren der russischen oder der sonstigen Besatzung vergleichen oder in einen Zusammenhang bringen kann. Es ist überhaupt keine Frage für mich, dass 1945 durch die Wiedererrichtung von Parlament, Verfassung, Demokratie eine vollkommen andere Situation gegeben war.

Daher bitte ich Sie auch, zu verstehen, dass wir in dieser Zeit gemeinsam darauf Wert legen müssen, dass es keine Vergleiche geben kann, kein Aufrechnen der Opfer, kein Ausspielen der Gefühle derer, denen vor 1945 Unrecht geschah, oder derer, denen nach 1945 Unrecht geschehen ist.


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