Aber uns geht es nicht darum, bei diesem Anlass neu zu polarisieren: Uns geht es darum, dass Geschichte nicht verfälscht und nicht uminterpretiert wird. Deshalb, Herr Kollege Cap, nur eines: Seien Sie vorsichtig bei Ihren historischen Schuldzuweisungen! Sie wissen so gut wie ich, dass die alte Sozialdemokratie eine großdeutsch eingestellte Partei war und dass noch 1938 Karl Renner dazu aufgerufen hat, für den Anschluss an Hitler-Deutschland zu stimmen, und dass Otto Bauer diesen Anschluss aus dem Prager Exil begrüßt hat und dass es noch 1945, nach dem Zweiten Weltkrieg, Friedrich Adler abgelehnt hat, nach Österreich zurückzukehren, weil er nicht in einem Lande leben wollte, das sein Deutschtum verleugnet, meine Damen und Herren! Auch das gehört zur historischen Wahrheit in diesem Lande! (Beifall bei der ÖVP und bei Abgeordneten der Freiheitlichen. – Zwischenruf der Abg. Bures. )
Akzeptieren wir doch gemeinsam: Österreich war ein Opfer, Österreicher waren unter den Opfern des Nationalsozialismus (Zwischenruf der Abg. Bures ), aber Österreicher waren selbstverständlich auch unter den Tätern! Auch das müssen wir einbekennen, und auch das bedauern wir zutiefst. Niemand wird leugnen, dass Hunderttausende den gewaltsamen Einmarsch Hitlers begrüßt haben, und niemand wird leugnen, dass die große Mehrheit schließlich – aber einen Monat nach dem Einmarsch – für den Anschluss Österreichs stimmte. Aber nehmen wir auch zur Kenntnis, dass rund 80 000 Österreicher verhaftet wurden – Sozialisten, Christdemokraten, Kommunisten – und die ersten politischen Gefangenen schon acht Tage nach dem Einmarsch als Opfer des Nationalsozialismus und wegen ihres Einsatzes für ein freies Österreich nach Dachau geschickt und verurteilt wurden!
Fassen wir bei diesem Anlass zusammen, was historisch unbestritten sein sollte. Unbestritten ist, dass Österreich als Staat bis 1938 gegen den Nationalsozialismus gekämpft hat. Und es ist keine österreichische Erfindung, sondern es ist die Wahrheit, dass viele Tausende Österreicher wegen ihres Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in Konzentrationslager mussten. Aber es ist auch Tatsache, dass viele Tausende Österreicher moralische Mitverantwortung an den Verbrechen des Nationalsozialismus tragen, meine Damen und Herren.
Es darf deshalb in keiner Weise, auch in Zukunft nicht, um eine Aufrechnung gehen. Es darf nicht darum gehen, den Eindruck zu erwecken, dass es hüben und drüben das gleiche Unrecht gegeben hätte und dass man sozusagen gleichsam quitt sei, dass nun ein historischer Schlussstrich gezogen werden könnte. Nein, das glaube ich nicht. Das würde auch dem unvergleichlichen Verbrechen des Holocaust nicht gerecht werden. Deshalb, so meine ich, müssen sich auch in Zukunft alle gesellschaftlichen Kräfte einig sein, dass Österreich in seinem Selbstverständnis ein grundlegendes Bekenntnis zur Demokratie und zu Menschenrechten darstellt und dass dieser Staat auch auf den Trümmern des Nationalsozialismus aufgebaut wurde und dass sich dessen Gräuel nie mehr wiederholen dürfen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der ÖVP und bei Abgeordneten der Freiheitlichen.)
Vermeiden wir deshalb – auch das halte ich für wichtig, und noch viel mehr gilt das selbstverständlich für Staatsfunktionäre und für politische Verantwortungsträger –, durch allzu vordergründige Vergleiche auch nur den leisesten Eindruck eines Versuchs einer Relativierung unvergleichlicher Ereignisse zu erwecken. Alles, was – und sei es auch nur in der missverständlichsten Form – in Richtung einer Verharmlosung oder einer Bagatellisierung des Schreckens des Nationalsozialismus gedeutet werden kann, ist klar und deutlich zurückzuweisen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der ÖVP und bei den Grünen.)
Wer heute in Zweifel stellt, dass das Frühjahr 1945 für Österreich ein Augenblick der Befreiung war, der leugnet jene Opfer, die von Österreicherinnen und Österreichern im Kampf gegen Totalitarismus und Diktatur erbracht wurden.
Meine Damen und Herren! Diese Einsicht des Versagens vor der Geschichte ist am Beginn der europäischen Integration gestanden. Nie wieder soll von europäischem Boden aus Krieg geführt werden und von einem europäischen Land gegen ein anderes. Das war auch immer das Motto von Helmut Kohl, gerade in seinen europapolitischen Bestrebungen. Das war der Ausgang Europas, der Ausgang der Montanunion, das war die Vision Adenauers, Schumans und De Gasperis. Und daher führt vom Bekenntnis der Unabhängigkeit der Österreicher der ersten