Denken wir zurück: Es liegt nur wenige Jahrzehnte zurück, dass dieses Europa eigentlich in Trümmern gelegen ist, in Trümmern gelegen ist nach einem Terrorregime der Nazis, in Trümmern gelegen ist nach dem Zweiten Weltkrieg. Es liegt wenige Jahrzehnte zurück, dass Europa nach diesem Zweiten Weltkrieg geteilt wurde, dass Grenzen geschaffen wurden, die eigentlich die Geschichte nicht gekannt hat, sondern die fehlgesteuerte Menschen auf diesem Kontinent geschaffen haben.
Nach diesen wenigen Jahrzehnten – eigentlich eine kurze Phase in der Geschichte dieses Kontinents, aber eine Phase, die dramatische Folgen für Millionen von Menschen auf diesem Kontinent gehabt hat – können wir heute ein neues Kapitel der europäischen Einigung aufschlagen (Beifall bei der ÖVP und den Freiheitlichen), einer europäischen Einigung, die eigentlich ganz zentrale und wichtige Antworten gibt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese europäische Einigung wurde in den fünfziger Jahren nach diesen dramatischen Ereignissen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs und der Teilung dieses Kontinents als Antwort gesucht und gefunden. Mir ist es so wichtig, das auch an einem Tag wie heute zu betonen, weil es immer notwendig ist, zu den Wurzeln zurückzugehen. Verantwortliche Staatsmänner und -frauen haben damals eine Überlegung, die sehr einfach ist, angestellt und gesagt: Wenn wir eine wirtschaftliche Verflechtung zwischen den verfeindeten Nationen auf diesem Kontinent zustande bringen, dann kann mit dieser wirtschaftlichen Verflechtung ein ganz entscheidender Beitrag zu dem Wunsch geleistet werden: Nie wieder Krieg in Europa! (Beifall bei der ÖVP und den Freiheitlichen sowie bei Abgeordneten der SPÖ und der Grünen.)
Aber es war damals schon klar – und das halte ich für das Faszinierende an dieser Idee –, dass die Gründerväter der Europäischen Union, des europäischen Einigungsgedankens gesagt haben, es wird auf Dauer nicht reichen, dass wir eine Wirtschaftsgemeinschaft bilden, sondern wir brauchen die Vision der politischen Gemeinschaft, der politischen Vereinigung in Europa, weil nur die politische Zielsetzung letztendlich die Antwort sein kann, die mit dem Prozess der wirtschaftlichen Einigung begonnen wurde.
Heute, meine Damen und Herren, setzen wir einen ganz zentralen Stein in dieses europäische Einigungsbauwerk, in dieses Gebäude. Wir nehmen diese zehn neuen Länder in unsere Europäische Union auf. Es kann sich an einem Tag wie heute wahrscheinlich niemand von persönlichen Erlebnissen in diesem Zusammenhang trennen, ganz im Gegenteil, wahrscheinlich geht es jedem so, dass er diese persönlichen Erlebnisse hat.
Ich kann wenig über die Gründungszeit reden, ich bin im Jahre 1955 geboren, zufällig am Tag bevor der österreichische Staatsvertrag unterschrieben wurde, als Leopold Figl gesagt hat: „Österreich ist frei!“
Aber es ist mir ein Erlebnis ganz tief eingegraben, meine Damen und Herren, das war der August 1968. Ich tue das selten, dass ich über Persönliches auch öffentlich rede – Sie wissen das –, aber in diesem Fall ist mir das so wichtig. Ich kann mich erinnern, als an diesem August-Morgen meine Mutter an mein Bett gekommen ist, mich mit Tränen in den Augen aufgeweckt und gesagt hat: In Prag fahren die russischen Panzer! Was das für meine Elterngeneration bedeutet hat, ist mir eigentlich so richtig bewusst geworden an diesem Morgen im August 1968.
Das war mit ein Motivator dafür, dass für mich diese europäische Einigung auch so eine emotionale Sache ist, die nicht alleine rational und technokratisch bewältigbar ist, sondern diese Emotion haben muss.