Nationalrat, XXII.GP Stenographisches Protokoll 109. Sitzung / Seite 51

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10.54.16

Abgeordneter Dr. Alexander Van der Bellen (Grüne): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grünen befassen sich seit langem mit den Vorzügen und den Mängeln dieses Entwurfs zu einer Europäischen Verfassung. Und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass bei einer gründlichen Abwägung der Vorzüge, die es zweifellos gibt, und einiger Mängel, die es auch im Text gibt beziehungsweise bei dem, was nicht im Text steht, ein klares Ja zu diesem Verfassungsvertrag geboten erscheint, und zwar aus folgenden Gründen, die ich kurz skizzieren möchte.

Übrigens: Dieser Vertrag über eine Verfassung für Europa ist schon eine ziemliche Schwarte. Er umfasst gedruckt, glaube ich, fast 500 Seiten, der eigentliche Textteil vielleicht 300. Die österreichische Verfassung kommt mir im Vergleich dazu schlank, ja geradezu elegant vor. Aber wir haben ja auch schon 85 Jahre Tradition, die EU noch nicht.

Was sind also aus meiner Sicht, aus unserer Sicht die wesentlichen Vorteile dieser Verfassung?

Erstens: Die europäische Demokratie wird tatsächlich deutlich in ihren Grundlagen gefestigt. Das zeigt sich daran, dass die einzige europäische Institution, die direkt ge­wählt wird, das Europäische Parlament, deutlich in seinen Rechten als Gesetzgeber gestärkt wird und in die Gesetzgebung viel stärker als bisher eingebunden wird. Das war ja1995 ein wesentlicher Kritikpunkt der Grünen – aber nicht nur der Grünen –, dass die demokratische Verfasstheit der Union mehr als zu wünschen übrig lässt und in Wahrheit damals rudimentär ausgebildet war. Gleichzeitig damit wird natürlich die Gewaltentrennung in der Europäischen Union als Basis einer funktionierenden Demo­kratie deutlich verbessert. (Beifall bei den Grünen.)

Zweitens – und auch das ist wichtig in einem Europa, das derzeit 25 Mitgliedstaaten hat und demnächst 27 oder 30 –: Die Handlungsfähigkeit der Union wird deutlich ver­bessert. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass das Prinzip der Einstimmigkeit aller Mitgliedstaaten, um zu einem Beschluss zu kommen, deutlich zurückgenommen wird zugunsten eines Beschlusses mit so genannter qualifizierter Mehrheit. Das ist eine doppelte Mehrheit von den Mitgliedstaaten einerseits und eine Mehrheit der euro­päischen Bevölkerung andererseits, die durch diese Staaten repräsentiert wird.

Das allein ist schon ein Fortschritt gegenüber dem Vertrag von Nizza. Dort waren meines Erachtens intransparente Stimmgewichtungsregeln im Europäischen Rat maß­geblich, die niemanden überzeugt haben. Über Details kann man immer reden, aber das Prinzip der doppelten Mehrheit ist transparent, verständlich und nachvollziehbar.

Drittens – und das ist ein wesentlicher Punkt –: Der Teil II dieser neuen Europäischen Verfassung, die Charta der Grundrechte, ist ein wirklich sensationeller Erfolg, wenn man sich einmal vorstellt, wie wenige andere Staaten auf der Welt, Nationalstaaten, einfache Staaten oder irgendein Staatenbündnis, eine derartige Grundrechtscharta in ihrer Verfassung verankert haben. Und diese Grundrechtscharta betrifft nicht nur die klassischen liberalen Freiheits- und Grundrechte, wie zum Beispiel Meinungsfreiheit, Medienfreiheit, Freiheit der Kunst, Freiheit der Wissenschaft und so weiter, Freiheits­rechte, die gewissermaßen den Bürger vor dem Staat schützen sollen, sondern zeigt auch im Bereich der sozialen Grundrechte wesentliche Fortschritte. (Beifall bei den Grünen sowie bei Abgeordneten der SPÖ und der ÖVP.)

Das ist auch insofern von Bedeutung, als ja von verschiedener Seite kritisiert wird, dass diese Verfassung eine neoliberale Schlagseite und Ähnliches habe.

 


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