Nationalrat, XXIV.GPStenographisches Protokoll29. Sitzung / Seite 197

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Der Elternteil, dem die elterliche Sorge entzogen wird (meist handelt es sich dabei um den Vater), verliert seine Rolle als Vertreter und Erzieher des Kindes. Er sieht sich bloß noch als Zahlvater mit Besuchsrecht5. Dies schadet dem betroffenen Elternteil, dem die Verantwortung für das Kind entzogen wird und der sich damit dem Kind entfremdet. Noch schädlicher ist diese Lösung aber für das Kind, dessen Entwicklung dadurch schwer und dauerhaft gefährdet werden kann6. Weil die elterliche Sorge meist der Mutter zugesprochen wird, hat sie ferner die Möglichkeit, ihre Zustimmung zum ge­meinsamen Sorgerecht von Zugeständnissen in anderen Punkten abhängig zu ma­chen. Beispielsweise kann sie versuchen, auf diese Weise höhere Unterhaltsleistungen durchzusetzen. Sie kann ihre Zustimmung aber auch ohne Angabe von Gründen ver­weigern. Fehlt es an einem gemeinsamen Antrag, scheidet das gemeinsame Sorge­recht aus. Aus der Sicht des Kindes ist diese Situation unbefriedigend. Die geltende Regelung zum gemeinsamen Sorgerecht entspricht deshalb nicht dem Wohl des Kindes7.

Die Tatsache, dass die elterliche Sorge von Gesetzes wegen einem Elternteil allein übertragen wird (Art. 133 Abs. 1 ZGB), stieß denn auch bereits vor Inkrafttreten des neuen Scheidungsrechts im Jahr 2000 auf Kritik8. Die kritischen Stimmen verstummten auch später nicht. Im Gegenteil verlangen grösser werdende Kreise aus Politik und Lehre sowie Vätervereinigungen eine Revision des Gesetzes mit dem Ziel, das ge­meinsame Sorgerecht als Regelfall vorzusehen.

Eine von der gesellschaftlichen Entwicklung überholte Regelung

Immer mehr Eltern entscheiden sich heute für das gemeinsame Sorgerecht. Im Jahr 2000 galt bezogen auf die ganze Schweiz das gemeinsame Sorgerecht für 1189 Scheidungskinder (15 %). Im Jahr 2007 stieg diese Zahl auf 4981 (34 %). Dabei ist das gemeinsame Sorgerecht in den Kantonen der lateinischen Schweiz häufiger an­zutreffen als in der Deutschschweiz (42 % gegen 30 % im Jahr 2007)9. Im Hinblick auf die im Ausland gemachten Erfahrungen darf man davon ausgehen, dass diese Zahlen ohne das faktische Vetorecht der Mutter noch höher lägen.

Die Studie NFP 52 zeigt, dass die große Mehrheit der Väter, die das Sorgerecht im Zusammenhang mit einer Scheidung verloren haben, sich dieses zurückwünschen10.

Überholte Regelung im Vergleich mit dem Ausland

Die Schweiz hinkt der Rechtsentwicklung in Europa hinterher. Die Mehrheit der euro­päischen Länder kennt heute die gemeinsame Sorge nach einer Scheidung als Regel­fall (vgl. Ziff. 1.4.1). Die Schweiz hat sich immer um ein modernes Kindesrecht bemüht; eine Anpassung an die Gesetzgebung im Ausland ist deshalb wünschenswert.

Umfrage zum Scheidungsrecht bei Richter/innen und Anwält/innen sowie Mediato­ren/Mediatorinnen (Mai 2005)

Mit dem Postulat Jutzet (00.3681 – Anwendung des neuen Scheidungsrechts) vom 13. Dezember 2000 wurde der Bundesrat eingeladen, bei den Praktikern Berichte über die Erfahrungen mit dem neuen Scheidungsrecht einzuholen und aufgrund der Ergeb­nisse gegebenenfalls frühzeitig eine Gesetzesrevision in die Wege zu leiten. In der Fol­ge wurde ein Fragebogen an 160 Gerichte Erster und Zweiter Instanz, an 1.510 auf das Scheidungsrecht spezialisierte Mitglieder des Schweizerischen Anwaltsverbandes und an den Verband der Mediatorinnen und Mediatoren verschickt. Insgesamt 950 Per­sonen haben geantwortet.

Die Umfrage lässt nicht auf besondere Probleme im Zusammenhang mit dem gemein­samen Sorgerecht schließen. Die befragten Personen regten aber gewisse Verbesse­rungen für die Väter ohne Sorgerecht an; durch Ergänzung von Artikel 275a ZGB sollte ihnen ein eigentliches Mitbestimmungsrecht bei wichtigen Entscheidungen gewährt


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