Nationalrat, XXIV.GPStenographisches Protokoll55. Sitzung / Seite 104

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Das Gesetz reagiert natürlich auf ein Umfeld, aber es soll sich vor einem Umfeld nicht verbeugen, sondern die Defizite aufzeigen. Es wäre an und für sich eine Aufgabe meh­rerer Ausschüsse, das einmal ins Auge zu fassen. Es ist eine Tatsache, dass Zwangs­einweisungen und -unterbringungen ganz wesentliche Rechte eines Individuums redu­zieren. Man muss aber auch darüber Bescheid wissen, welches Ausmaß und welche Intensität psychische Erkrankungen annehmen können und wie frei sich Leute fühlen, die einen schizophrenen Schub haben und alles, was sie wahrnehmen – Halluzinatio­nen, Stimmen zu hören, Befehle zu bekommen –, als Realität sehen, als Realität!

Diesen Leuten muss man helfen und sie nicht diskriminieren. Man muss psychiatri­schen Erkrankungen auch vorbeugen – und es ist Tatsache, dass WHO und Rech­nungshof die Situation in Österreich massiv kritisieren: unzureichende Datenmengen, unkoordinierte Psychiatriereformen ohne klare Umsetzungsschritte, ohne nachhaltige Finanzierungspläne, ohne ein langfristiges, strategisches Konzept. Bundespolitische Maßnahmen greifen nicht, weil Länder sich sperren und Bund-Länder-Konflikte in einem Föderalismus Verbesserungen verhindern.

Man weiß, dass es bis zum Erhalt einer wirklich fachgerechten Diagnose für psychisch kranke Menschen oft fünf Jahre dauert – bis sie endlich an eine richtige Stelle zur Be­handlung kommen. Man weiß, dass die Behandlungsmöglichkeiten außerhalb von sta­tionären Einrichtungen – Tageskliniken, Ambulatorien, ambulante Versorgung im nie­dergelassenen Bereich – in Österreich sträflichst vernachlässigt wurde. Eine Entlas­sung ist teilweise fast fahrlässig, weil in manchen ländlichen Gebieten de facto keine zeitgemäße, sachgerechte und fachgerechte Versorgung stattfindet – da muss etwas getan werden.

Wir wissen, dass sich in Österreich jährlich 1 400 Menschen selbst das Leben neh­men – das sind fast dreimal so viele wie Verkehrstote. Wenn man rechnet, was für die Sicherheit des Verkehrs, die Sicherheit von Kraftfahrzeugen, die Sicherheit von Fuß­gängern getan wird, möchte ich einen Bruchteil für die Sicherheit und für die zeitge­mäße Behandlung psychisch Kranker aufwenden dürfen. Das muss Gegenstand der Debatte sein. Davor sollte das Parlament auf jeden Fall die Augen nicht verschließen.

Wenn man schaut, wie die Lage in Europa ist, sieht man, dass sie sehr heterogen ist: Es gibt Länder, da werden sechs Zwangseinweisungen auf 100 000 Einwohner regis­triert. Andere Länder haben 218 Zwangseinweisungen pro 100 000 Einwohner. Öster­reich liegt jedenfalls im vorderen Drittel. Manche Länder haben eine Gültigkeitsdauer der Erstbeschränkung von einer Woche, andere von zwei Jahren – das muss man sich einmal bewusst machen. Da ist die Situation in Österreich ja noch hervorragend.

Also, was ich mir wünsche, ist, dass dieses Thema auch zu einem Dialog zwischen Gesundheitsressort und Justizressort führt, weil dann manche Maßnahmen vielleicht viel besser, viel zielgerichteter und möglicherweise seltener getroffen werden können. (Beifall bei den Grünen und bei Abgeordneten der ÖVP.)

Andererseits verlange ich aber auch, dass wir – und da schließe ich meine Partei nicht aus – nicht jede Zwangsbehandlung, nicht jede Therapie in der Psychiatrie als etwas Diabolisches sehen, sondern auch als Möglichkeit, Menschen zu helfen und Rückfälle zu vermeiden.

Was wir jetzt gar nicht besprochen haben, ist der Bereich der Demenzkranken: Wie können die sich selbst gefährden? Wie geht man damit um? Da hängt es schon davon ab, welcher Betreuungsschlüssel in Heimen angewandt wird. Jemanden festzubinden, festzuhalten, nur weil das Personal nicht da ist und die, die da sind, sich nicht anders zu helfen wissen, ist ein österreichweiter und nicht seltener Skandal, der abgestellt ge­hört. – Vielen Dank. (Beifall bei den Grünen.)

12.46

 


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