Nationalrat, XXV.GPStenographisches Protokoll94. Sitzung / Seite 23

HomeSeite 1Vorherige SeiteNächste Seite

gen wird, Schulabschlüsse zu ermöglichen, dass auch das Volksschulsystem und der Übergang in die Mittelschule anders organisiert werden, dass wir diese Kinder nicht einfach auf neun Jahren Schulweg verlieren, was im Moment der Fall ist. (Neuerlicher Beifall bei den Grünen. – Unruhe bei der ÖVP.)

Ich orte eine gewisse Unruhe bei der ÖVP. Ich weiß nicht, ob das Thema Sie unruhig macht, aber vielleicht kann man das ein bisschen abstellen und diese wichtige Zu­kunftsfrage schon auch mit großer Ernsthaftigkeit diskutieren. (Abg. Kogler: Passt auf, dass ihr was lernt!)

Bildung ist der Schlüssel zu einem guten Zusammenleben in der Gesellschaft. Das wissen Sie. Wir müssen das für diese jungen Leute schaffen. Es sind mittlerweile 80 000 junge Menschen von 15 bis 24, die in Österreich keine berufliche und auch sonst keine gesellschaftliche Perspektive haben.

Dafür brauchen wir Volksschulen, die ein Ort sind, wo die Kinder ihre Erfolgserlebnisse haben können und ihnen auch Lernerfolgserlebnisse ermöglicht werden. Sie alle ken­nen die Fortschritte von Klein- und Kleinstkindern. Die wollen alle laufen lernen, die wollen alle Rad fahren lernen, die wollen alle endlich schreiben lernen – der Stolz, wenn ein Kind nach drei Wochen Volksschule das erste Mal „Mama“ schreiben kann, wie stolz dann die Kinder sind!

Dann, in der dritten, vierten Klasse, kippt das System auf einmal in Richtung Defizit­orientierung. Das hat einen Grund. Das hat eben den Grund, dass mit dem Halbjah­reszeugnis in der vierten Klasse Volksschule die Kinder de facto mit der Rasierklinge getrennt und in zwei Töpfe geworfen werden: die einen, die fähig sind für das Gymna­sium, und die anderen, die es nicht sind. Bereits in dieser Phase, in der dritten, vierten Klasse Volksschule, beginnt es, dass man sich mit Schwächen beschäftigt, dass man nicht mehr die Stärken in den Mittelpunkt rückt, sondern die Schwächen.

Da gibt es so viele traurige Geschichten von so begabten Kindern in der Volksschule, die wunderbare Aufsätze schreiben können, die wunderbare Geschichten schreiben können, aber halt im Rechnen noch ein bisschen hintennach sind. Dann bleibt die Tür zum Gymnasium einfach zu. Auch umgekehrt: Kindern, extrem begabt, die mehrstellig multiplizieren können, im Kopf dahinmultiplizieren können, die vielleicht noch ein sprach­liches Defizit haben, vielleicht, weil sie nicht in Österreich geboren sind, vielleicht auch aus einem anderen Grund, bleibt die Tür zum Gymnasium versperrt.

Und das ist schon etwas, was wir uns überlegen müssen: Wollen wir Neun-, Zehn- und Elfjährigen dieses unsichtbare Zeichen in der Schule auf die Stirn drücken: „zweite Wahl“ – du warst nicht gut genug für das Gymnasium? Wollen wir das wirklich? Ich glaube, es ist wirklich an der Zeit, das zu überdenken. (Beifall bei den Grünen. – Abg. Steinbichler: Das ist eine Wahnsinns...!) – Es ist so. Es ist tatsächlich so. Wenn Sie ein Kind haben, das einen Dreier in der Volksschule hat, dann kann es nicht in das Gymnasium seiner Wahl gehen. Sie wissen, wie unterschiedlich die Kinder in diesem Alter sind und wie sehr es davon abhängt, ob ein Kind im Jänner oder im Juli geboren ist. Gerade im Alter zwischen sechs und zehn Jahren sind die Entwicklungsunterschie­de extrem. Warum nicht jedem Kind die gleiche Chance geben? Warum nicht jedes Kind individuell so fördern, dass es die bestens Chancen erhält? Wenn Sie da dagegen sind – ich kann das nicht nachvollziehen! (Beifall bei den Grünen.)

Das ist eine Situation, da entstehen Ängste, da entsteht Druck, da wird Nachhilfe ge­geben – Nachhilfe in der Volksschule, das muss man sich einmal vorstellen!

Jetzt haben wir mit Vorarlberg ein ganzes Bundesland, in dem sich Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, die Schulen, die Politik vor allem, entschlossen haben, das als Modellre­gion „Gemeinsame Schule“ zu machen, wo man genau diese Trennung nicht macht und wo man Kinder individuell mit viel Einsatz, nicht nur persönlichem Einsatz, sondern


HomeSeite 1Vorherige SeiteNächste Seite