wir besonnen reagieren und nicht der Versuchung anheimfallen, Großbritannien zu bestrafen, sozusagen ein Exempel zu statuieren, um andere Länder davon abzuhalten, auch ein Referendum zu organisieren.
Ja, die Briten haben eine weitere Krise vom Zaun gebrochen, aber ein Revanche-Foul ist nicht angebracht. Zum Ersten wird Großbritannien schon genug gestraft, das haben wir schon erwähnt. Zum Zweiten kann es doch nicht im Interesse Europas sein, dass die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas, ein ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, in politischem Chaos und Rezession versinkt.
Großbritannien ist Teil Europas. Man sieht es von der französischen Küste, es wird nicht irgendwo in den Nordatlantik abdriften. Millionen EU-Bürger leben in Großbritannien, und auch Millionen Untertanen Ihrer Majestät haben ihren Wohnsitz auf dem Kontinent. Ich denke, dass Großbritannien auch außerhalb der EU am Wohlstand und an der Sicherheit Europas mitwirken kann. Auch außerhalb der EU wird Großbritannien weiterhin die europäischen Werte mittragen, verteidigen und weltweit fördern.
Das Ziel muss also sein, einen fairen, konstruktiven Prozess für eine Trennung im Guten zu erreichen. Gleichzeitig sollten wir uns aber in Acht nehmen, dass nicht auf Jahre hinaus die ganze Energie der EU von der Abarbeitung des Brexit aufgesogen wird, dass wir nicht sozusagen von nie endenden Verhandlungen zur Neugestaltung des Verhältnisses Großbritanniens zur EU in Geiselhaft genommen werden.
Ganz besonders ist darauf zu achten, dass Großbritannien jetzt nicht trotz des Votums für den Austritt versucht, diesen doch nicht durchzuziehen. Die Anzeichen für ein solches Vorgehen mehren sich schon. Als Erstes kam ja die überraschende Reaktion Camerons, den Antrag auf den Austritt doch nicht zu stellen, sondern auf September zu verschieben. Das geschah natürlich unter anderem in der Hoffnung, dass doch ein Sinneswandel entstehen könnte und dass man vielleicht über den Umweg von Neuwahlen de facto ein zweites Referendum organisieren könnte. Mehrere Millionen Briten haben schon relativ spontan für die Abhaltung eines zweiten Referendums unterschrieben. Wir dürfen nicht vergessen, dass im britischen Unterhaus eine Mehrheit der Abgeordneten für den Verbleib stimmte und dass das Referendum rechtlich gesehen nicht bindend ist.
Aber trotzdem wäre eine Missachtung des Referendums meiner Ansicht nach demokratiepolitisch sehr bedenklich und auch für die EU sehr schlecht. Es wäre die schlechteste aller Optionen, dass Großbritannien ständig mit einem Fuß drinnen und mit einem Fuß draußen ist.
Das Ausscheiden Großbritanniens ist ja kein Unfall. Das Referendum ist nicht aufgrund einer temporären Missstimmung, nicht aufgrund wirtschaftlicher und sozialer Unzufriedenheit, nicht aufgrund von Angst vor einer Völkerwanderung oder Einwanderungswelle so ausgegangen, sondern das ist die logische Folge von 40 Jahren Missverständnissen. Das grundlegende Missverständnis war, dass Großbritannien geglaubt hat, die EU bleibt eine turbogeladene Freihandelszone. – Das Gegenteil ist eingetreten, das politische Projekt hat sich entwickelt. Umgekehrt haben die anderen Mitgliedstaaten geglaubt, mit der Zeit würde Großbritannien lernen, die EU zu lieben. – Das ist nicht eingetreten. Es blieb bei einer 43 Jahre langen Verlobung. Die Ehe ist nie vollzogen worden, und jetzt ist es an der Zeit, diese Verlobung aufzulösen.
Ich denke, drei Dinge sind als Handlungsanleitung für die Regierung ganz wichtig: Es ist notwendig, einen zeitnahen Start der Verhandlung über die Modalitäten der Trennung festzusetzen. Ein Aufschub bis September ist okay, aber nicht darüber hinaus, denn sonst öffnen wir die Tür für ein weiteres Aufschieben und dann de facto für einen Wiederanschluss an die Verhandlungen von Februar, die wir als abgeschlossen betrachteten. Es dürfen auch keine Verhandlungen aufgenommen werden, bevor der Antrag gestellt wird, denn auch das wäre fatal. Dadurch würde das Königreich die Mög-
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