Nationalrat, XXV.GPStenographisches Protokoll190. Sitzung / Seite 71

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Durch die kalte Progression verändert sich nicht nur die Steuerbelastung, sondern auch deren Verteilung. Das kann zu einer einkommensbezogenen Steuerverteilung füh­ren, die in dieser Form niemals vom Gesetzgeber legitimiert wurde. Wissenschaftler des Münchner ifo Institutes fassen dies in einem Papier so zusammen: „Durch das Hinein­rutschen in höhere Grenzsteuersätze kommt es zu einer Stauchung der gesellschaftli­chen Steuerlastverteilung und somit zu einer Abweichung von den ursprünglich vom Ge­setzgeber intendierten Verteilungswirkungen des Steuersystems. Diese Änderungen der Steuerlastverteilung sind zudem nicht explizit demokratisch legitimiert.“ (Quelle: Fuest, Clemens, Björn Kauder, Luisa Lorenz, Martin Mosler, Niklas Potrafke und Florian Dorn, Heimliche Steuererhöhungen – Belastungswirkungen der Kalten Progression und Entlas­tungswirkungen eines Einkommensteuertarifs auf Rädern, ifo Forschungsberichte 76, ifo Institut, 2016) Forscher des selbigen Instituts ziehen in einem aktuellen Papier zur kal­ten Progression folgende Schlussfolgerung: „Das Phänomen der (...) Kalten Progres­sion jedoch muss als "Irrtum" des Steuersystems aufgefasst werden. Die Kalte Progres­sion schwächt die Verteilungswirkungen des Steuersystems und führt zu einer Auswei­tung der Steuerquote, die sich der demokratischen Kontrolle entzieht. Es ist deshalb wünschenswert, die Kalte Progression zu beseitigen.“ (Quelle: Dorn, Florian; Clemens Fuest; Björn Kauder; Luisa Lorenz; Martin Mosler und Niklas Potrafke, "Steuererhöhun­gen durch die Hintertür – fiskalische Aufkommenswirkungen der Kalten Progression", ifo Schnelldienst 70 (02), 2017, 51-58)

Bei der Verteilung der Last geht es aber nicht nur um die Verteilung zwischen den ver­schiedenen Einkommensklassen, sondern um die Aufteilung von erwirtschafteten Er­trägen zwischen privat und öffentlich. Die zusätzlichen Mittel, welche an die öffentliche Hand gehen, sind auch aus ökonomischer Sicht problematisch – vor allem vor dem Hintergrund der zweithöchsten Abgabenbelastung auf den Faktor Arbeit in ganz Euro­pa. Es mangelt dem mit der kalten Progression verbundenen Anstieg der Steuerquote an Rechtfertigung. Auch aus ökonomischer Sicht ist es nicht schlüssig, warum eine schleichende Steuererhöhung im Sinne der Bürger_innen wäre, ohne dass der Gesetz­geber darlegt, dass die Nachfrage nach öffentlichen Gütern schneller steigt als die Nach­frage nach privaten Gütern - nur eine solche Nachfrageverschiebung würde eine Er­höhung der Steuerbelastung rechtfertigen.

D.h. eine Diskussion über eine Belastungsverteilung steht dem Gesetzgeber in jeder Form zu, diese sollte aber unabhängig von einer illegitimen, automatisierten Zusatzbe­lastung stattfinden. Fakt ist jedenfalls: Durch die kalte Progression kommt es zu einer Steuererhöhung, welche nicht vom Parlament beschlossen werden muss und welche somit nur selten das Ergebnis einer öffentlichen politischen Debatte ist. Diese Debatte ist aber dringend zu führen.

Durch die immer größer werdende Steuerbelastung sinkt auch der Arbeitsanreiz, vor allem in den unteren Einkommensklassen. Denn nur wenn der Unterschied zwischen dem arbeitsfreien Einkommen und dem Nettoeinkommen groß genug ist, wird der An­reiz zu arbeiten groß genug sein. Mit derselben Argumentation rechtfertigt Kanzler Kern auch seine Forderung nach einer Erhöhung des Mindestlohns. Konkret ist in dessen "Plan A" zu lesen: "Mit einem Mindestlohn von 1.500 Euro wird auch gleich der Ab­stand zu arbeitsfreiem Einkommen größer. (...) Weil uns Arbeit das wert sein muss und weil sich Arbeit lohnen muss." Auch die Sozialdemokratie erkennt also an, dass sich der Unterschied zwischen arbeitsfreiem Einkommen und Arbeitseinkommen vergrößern soll und nicht verkleinern, wie es durch die kalte Progression passieren kann.

Das ist aber nicht nur bei unteren Einkommen entscheidend. Bei größer werdender Steuerbelastung auf den Faktor Arbeit sinkt der Arbeitsanreiz auch bei höheren Steu­erklassen. Diese Erkenntnis ist auch dem BMF bekannt. Dieses bewarb die Steuerre­form auch wegen der Arbeitsanreize, wie im Budgetbericht von 2016 zu lesen ist: "... die erhöhten Arbeitsanreize durch Senkung der Steuerbelastung heben auch nachhal-


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