9.11

Abgeordneter Mag. Christian Kern (SPÖ): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehr­tes Hohes Haus! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Galerie und vor den Fern­sehschirmen! Wir haben das Thema Arbeitsmarktpolitik ganz bewusst ausgewählt, weil wir in diesen Tagen erleben, dass Österreich wirtschaftlich floriert. Wir haben ein Re­kordwirtschaftswachstum, wir sehen, dass der Jobmarkt boomt – noch nie waren so viele Menschen in Österreich beschäftigt –, wir sehen, dass die Arbeitslosigkeit zurück­geht. Erfreulicherweise erleben wir auch, dass die Staatsverschuldung sinkt und die Prognosen der Wirtschaftsforscher so aussehen, dass wir bis 2020 sogar mit Budget­überschüssen rechnen dürfen.

Gleichzeitig erleben wir aber eine Entwicklung, die uns allen nicht egal sein kann. Wir sehen, dass die Arbeitslosigkeit, eine Geißel der Menschheit, noch immer nicht be­seitigt ist. Wir haben gesehen, dass im vergangenen Jahr 2017 fast eine Million Men­schen irgendwann einmal arbeitslos waren. Und was noch viel bedenklicher ist: Wir haben auch erlebt, dass über 100 000 Menschen langzeitarbeitslos sind; sie haben am Arbeitsmarkt nur eine sehr begrenzte Chance. Dahinter stecken menschliche Schick­sale, dahinter stecken Familien, dahinter stecken die Betroffenen und ihre Kinder. (Zwi­schenruf bei der FPÖ.)

Ich habe heute Morgen zwei der Betroffenen persönlich getroffen. Einer der Herren, namens Gerd Koppensteiner, hat sechseinhalb Jahre Arbeit gesucht, hat mehr als hun­dert Bewerbungen abgegeben und keine Antworten bekommen. Er hat eine zwei­stellige Zahl an Schulungen gemacht, weil man ihm gesagt hat: Du musst dich bloß motivieren, du musst eigenverantwortlich agieren! Trotzdem hat er keine Chance be­kommen. Was ist sein Fehler? – Sein Fehler: Er ist 50 Jahre alt. Genau für diese Men­schen haben wir die Aktion 20 000 geplant, Frau Ministerin, weil wir gewusst haben, dass der Markt und die Unternehmen diesen Menschen keine Chance mehr geben, dass diese Auswüchse eines kranken Systems dazu führen, dass Menschen wie Gerd Koppensteiner ausgesondert werden und am Arbeitsmarkt brutal abserviert werden.

Als wir heute geplaudert haben, hat er einen bemerkenswerten Satz gesagt; er hat gemeint: Du wirst ab einem bestimmten Alter automatisch aussortiert, was du kannst und leisten würdest, kannst du denen gar nicht zeigen. – Das ist genau das Problem, um das wir uns zu kümmern haben.

Die Aktion 20 000 war eines der erfolgreichsten Arbeitsmarktprojekte. Wir haben sie zunächst einmal in einem Testlauf ausgerollt. Das Ergebnis war, dass in Bezirken, in denen diese Aktion durchgeführt worden ist, das erste Mal seit Jahren die Arbeitslo­sigkeit bei den Älteren gesunken ist. Das ist ein bemerkenswerter Erfolg. (Beifall bei der SPÖ.)

Wir haben auch gesehen, dass das eine Aktion ist, die in Wirklichkeit gar nicht viel kostet und die wir uns allemal leisten können. Wenn Sie sich das genau anschauen, Frau Sozialministerin, dann werden Sie feststellen, dass Menschen wie Gerd Koppen­steiner, die im Rahmen dieser Aktion beschäftigt sind, 100 Euro pro Monat mehr kos­ten. Meine persönliche Meinung ist, dass wir – eine Gesellschaft, die reich ist, die er­folgreich ist, die von der Solidarität lebt – uns das leisten können müssen, denn da geht es um die Zukunftsperspektiven, da geht es um die Würde und da geht es darum, dass diese Menschen von den Existenzängsten befreit werden. (Beifall bei der SPÖ.)

Sie haben sich, gemeinsam mit der Bundesregierung, dafür entschieden, diese Aktion, diese Perspektive für die Menschen bei Nacht und Nebel zu zerstören.

Ich habe heute Morgen noch einen zweiten Kollegen getroffen, Andreas Berthold. Er hatte nicht das Glück des Herrn Koppensteiner, dass er im Rahmen der Aktion 20 000 einen Job gefunden hat. Auch er hat ein bemerkenswertes Schicksal hinter sich: fleißig gearbeitet, motiviert, immer auf der Suche nach einem Job. 150 Bewerbungen hat er abgegeben, hat er mir erzählt, drei Mal hat er eine Antwort bekommen, eine Standard­antwort: kein Interesse seitens des Unternehmens.

Wenn Sie dabei bleiben, diese Aktion zu streichen, dann rauben Sie Menschen wie Gerd Koppensteiner und Andreas Berthold ihre Lebensperspektive. (Beifall bei der SPÖ.)

Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen dabei geht, aber ich habe in den letzten Wochen viele der Betroffenen in ganz Österreich getroffen, in Kärnten, in Niederösterreich; ich war viel unterwegs. Die Menschen, die nicht mehr in diese Programme kommen, denen Sie die Tür vor der Nase zugeworfen haben, sind verzweifelt. Holen Sie sich einmal jeman­den von ihnen, reden Sie mit denen! Sie haben Angst, sind verzweifelt, heulen, sie wissen nicht mehr weiter, weil sie darin einen Strohhalm gesehen haben.

Da reden wir über das wirkliche Leben, das sind nicht Pressekonferenzen oder Twitter, sondern da geht es um echte Lebenschancen von echten Menschen. Deshalb ist meine Bitte: Überdenken Sie noch einmal Ihr Weltbild! (Abg. Belakowitsch: Vielleicht sollten das Sie machen!)

Der springende Punkt ist: Die Diskussion, die da geführt wird, finde ich, ehrlich gesagt, in hohem Maße ablehnungswürdig. Es war dem Generalsekretär der ÖVP vorbehalten, in einer Fernsehsendung zu erklären, die Aktion 20 000 sei nicht gut für Menschen. – Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag: Gehen Sie auf die Galerie, gehen Sie mit mir durchs Land, schauen Sie den Menschen in die Augen – und dann sagen Sie diesen bösartigen Satz noch einmal! (Beifall bei der SPÖ.)

Ich weiß nicht, was schlecht daran sein soll, wenn Menschen wieder die Perspektive bekommen, dass ihre Kinder mit auf Skikurs fahren können. Ich weiß nicht, was schlecht daran sein soll, wenn Menschen die Gewissheit haben, dass sie sich am nächsten Tag ein Abendessen leisten können. Und ich weiß auch nicht, was schlecht daran sein soll, wenn wir ihnen die Existenzängste nehmen. Mein Punkt ist: Das ist das Wesen der Politik, das ist das, worum es geht, und nicht die ganzen PR- und Show­veranstaltungen. (Beifall bei der SPÖ. – Heiterkeit des Abg. Gudenus. – Abg. Rosen­kranz: Es wird immer klarer, warum er abgewählt wurde!)

Ich darf Ihnen sagen: Das, was ich frappierend finde, ist – und ich habe es schon er­wähnt – das Weltbild, das Sie haben. Sie glauben, der Markt und die Unternehmen regeln das. Die Menschen bleiben auf der Strecke! Die Arbeitslosen sind ja grund­sätzlich nicht motiviert, nicht eigenverantwortlich genug, wie Sie es ausdrücken, und an ihrem Schicksal selber schuld. Sie tun so, als wäre das nachgerade selbst gewählt. Die Realität in Österreich ist, dass auf eine offene Stelle sechs Arbeitslose kommen, die sich darum raufen. Das ist die Realität, und der springende Punkt ist, wenn Sie sagen: Ihr müsst euch motivieren, ihr müsst Schulungen machen!, dann wird das das Problem nicht lösen.

Was mich persönlich am meisten frappiert, ist, wenn der Bundeskanzler und der Vize­kanzler, Kurz und Strache, sich hinstellen und dann auch noch erklären: Wir müssen die Durchschummler unter den Arbeitslosen bekämpfen, da gibt es ja welche, die haben Vermögen, die könnten ja darauf zurückgreifen, die sollen der Gemeinschaft nicht auf der Tasche liegen! – Ich schlage Ihnen vor: Kommen Sie einmal mit zum Arbeitsmarktservice, und dann suchen wir uns die Leute aus der Schlage heraus, die einen Porsche in der Garage stehen haben! Zeigen Sie mir bitte einmal Ihre Durch­schummler! (Beifall bei der SPÖ.)

Das steht nicht im Einklang mit der Lebensrealität der betroffenen Menschen in Öster­reich. Es wird auch keine Verbesserung bringen, wenn man diesen Menschen androht, dass man ihnen am Ende eines langen Erwerbslebens das Vermögen abnimmt. (Zwi­schenruf des Abg. Lasar. – Abg. Rosenkranz: So wie Sie mit Ihrer Mindestsicherung! Das ist doch Ihr Gesetz! Das ist doch Ihre Entscheidung gewesen!) Das Spannende bei der Geschichte ist, dass Sie sich dafür genieren; das merkt man ja an Ihren Aus­sagen und an Ihren Erklärungen, denn da wird etwas in ein Regierungsprogramm ge­schrieben und dann wird es zurückgenommen. (Abg. Belakowitsch: ... Regierungs­programm! Das steht überhaupt nicht drinnen!)

Das ist aber auch ein Spiel, was Sie da betreiben, ein Verunsicherungsslalom, der nicht in Ordnung ist, sage ich Ihnen! (Abg. Belakowitsch: Lesen Sie das Regierungs­programm! Haben Sie das überhaupt gelesen?)

Schauen Sie sich diese Aussagen an: Frau Hartinger, die Sozialministerin, hat uns er­klärt, es wird keinen Vermögenszugriff geben. Der Bundeskanzler hat hingegen ge­sagt, sehr wohl, denn das steht im Regierungsprogramm. (Abg. Belakowitsch: Das steht überhaupt nicht im Regierungsprogramm!) Frau Hartinger hat dann gesagt, na gut, der Bundeskanzler hat recht. Dann ist Herr Strache auf den Plan getreten und hat gesagt, das sind alles Fake News. Dann ist noch einmal Frau Hartinger gekommen und hat gesagt, das gibt es doch alles nicht. Herr Hofer hat sich eingemengt und hat gesagt, vielleicht kann man das Vermögen in einzelnen Fällen dann doch beschlag­nahmen. (Abg. Rosenkranz: ... kann man schon im SPÖ-Vorschlag!) Dann ist das weitergegangen: Die Generalsekretärin der FPÖ hat gemeint, unter keinen Umstän­den, und der Klubobmann der ÖVP hat gesagt: Nein, wir bleiben bei dem, was wir aus­gemacht haben!

Das ist ein Spiel, das die Menschen, die davon betroffen sind, massiv verunsichert. (Abg. Belakowitsch: Der Einzige, der spielt, sind Sie! Wissen Sie überhaupt, was drinnen steht? Hören Sie auf zu spielen mit den Leuten!) Die haben Angst, und Ihre Aufgabe ist es, diesen Menschen die Angst zu nehmen. (Beifall bei der SPÖ.)

Es ist Ihre Verpflichtung, diese Chaoswochen zu beenden und sich zu entscheiden, wer bei Ihnen das Sagen hat, um da rasch Klarheit zu schaffen. (Abg. Rosenkranz: Chaoswochen, das sind normalerweise nur die Veranstaltungen, die Ihre Freunde mit den Steinen und den dicken Bierflaschen machen!) Es ist auch nicht okay, zu sagen: Wir werden die Entscheidung, ob die Notstandshilfe gestrichen wird oder nicht, ein Jahr lang auf die lange Bank schieben!, denn es ist ja leicht identifizierbar und er­kennbar, dass das ein Manöver ist, um ja nicht vor den Landtagswahlen über uner­freuliche Dinge zu reden. Das ist das, was da passiert.

Dann möchte ich noch auf Folgendes hinweisen: Ihnen kann es nicht schnell genug gehen, diesen Vermögenszugriff bei Arbeitslosen zu realisieren. (Abg. Belakowitsch: Gerade haben Sie gesagt, dass ...! Wissen Sie, was Sie wollen?) Letzte Woche hat der neue Finanzminister Österreich das erste Mal beim EU-Finanzministerrat in Brüssel vertreten, und Sie haben ja erlebt, was die Panama Papers für eine Diskussion aus­gelöst haben. Da sind milliardengroße Steuerschlupflöcher geschaffen worden – die OECD prognostiziert, dass es bis zu 100 Milliarden Euro sind, die Österreich letztend­lich entgehen.

Der springende Punkt ist: Was machen Sie, anstatt da zuzugreifen, anstatt die Steu­ersünder zu erwischen? Der Finanzminister lässt bei seiner ersten Sitzung in Brüssel zu, dass Panama von der Liste der Steueroasen gestrichen wird. (Oh-Rufe bei der SPÖ.) Das ist Ihre Politik: Auf die Arbeitslosen draufhauen, und bei den Superreichen schaut man generös weg. (Abg. Höbart: Wie frustriert ...!)

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen, die Re­dezeit ist zu Ende.

Abgeordneter Mag. Christian Kern (fortsetzend): Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein letzter Punkt, weil uns heute die Nachricht ereilt hat, dass auch noch die Zahl der Steuerprüfer reduziert werden soll, dass die Planstellen nicht nachbesetzt werden sollen: Auch das ist wieder dieselbe Ideologie: immer gegen die Schwachen, aber das Geld nicht dort - -

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Ich mache Sie aufmerksam: Nur mehr den Schlusssatz, bitte.

 

Abgeordneter Mag. Christian Kern| (fortsetzend): Mein Schlusssatz lautet: Sehr ge­ehrte Frau Sozialministerin, überlegen Sie sich diese Entscheidung noch einmal! Es gibt so viele Betroffene, die diese Aktion brauchen, und meine Bitte und mein Wunsch wären, dass wir losgelöst von parteipolitischer Taktik überlegen, was wir für diese Men­schen tun können. – Danke. (Beifall bei der SPÖ. Ruf bei der FPÖ: Schwache Rede!)

9.22

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu einer einleitenden Stellungnahme hat sich Frau Bundesministerin Mag. Beate Hartinger-Klein zu Wort gemeldet. Ich erteile ihr das Wort.