Das, was mich wirklich zutiefst beeindruckt – und zwar in diesem Fall leider im negativen Sinn –, ist: Wir sind offensichtlich nicht in der Lage, aus der Geschichte zu lernen, denn die europäische Geschichte ist mit Blut geschrieben. In den vergangenen Jahrzehnten herrschte auf dem europäischen Kontinent Frieden, das war wie ein Aufatmen. Warnzeichen hat es schon immer genug gegeben: Ich denke an die Neunzigerjahre und den Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens. Schon damals waren wir überrascht, dass Auseinandersetzungen überhaupt noch mit solcher Brutalität geführt werden können.
Heute erleben wir wieder Politik verbunden mit Gewalt, obwohl wir uns in Europa in den verschiedensten internationalen Organisationen unisono dazu bekannt haben, dass wir uns aus dem Lernen der Geschichte heraus eigentlich dazu verpflichten, Konflikte eben nicht mehr mit Gewalt zu lösen, sondern miteinander zu sprechen, uns an einen Verhandlungstisch zu setzen – auch wenn es mühsam ist, auch wenn das heißt, man kriegt nicht immer zu 100 Prozent das, was man will – und um den Preis des Friedens willen den Verhandlungstisch nicht zu verlassen.
Eines nämlich zeigt die Geschichte, gerade auch die Europas: Im Krieg gibt es immer nur Verlierer, und die Ersten, die verlieren, sind die Schwachen in unserer Gesellschaft. Das Leid wird dann immer historisch aufgearbeitet, da gibt es ganz viel wissenschaftlichen Diskurs dazu, das Leid aber bleibt immer das Gleiche. Der Verlust von Menschen ist immer gleich schrecklich, und er lässt sich in Wahrheit nicht dadurch rechtfertigen, dass man versucht, seine politischen Interessen durchzusetzen.
Es ist tatsächlich eine ernste Situation, die wir jetzt gerade in der Ukraine erleben. Wir erleben eine umfassende Invasion vom Norden, vom Süden und im Osten. Die Großmacht Russische Föderation zeigt ihr gesamtes militärisches Potenzial, von amphibischen Anlandungen bis zu Luftlandedivisionen bis zur Panzerwaffe bis zur weitreichenden Artillerie. All das klingt in Worten und Sätzen noch gar nicht so dramatisch, aber jede Artilleriegranate, jeder Schuss kann ein Menschenleben auf Dauer zerstören oder tatsächlich auch auf Dauer beschädigen.
Es gibt, glaube ich, tatsächlich – auch das ist ein Lernen aus der Geschichte – nichts, was nur fatal und schlecht ist. Was meine ich damit? – Es ist das, was man der Europäischen Union bei all den Diskussionen und Problemen, die wir auf Regierungschefebene, auf Ministerebene ständig aufgrund der 27-fach verschiedenen Interessen, die aufeinanderprallen und die oft leidenschaftlich diskutiert werden – von wirtschaftlichen Interessen bis zur Energieversorgung –, zu klären haben, schon seit Langem nicht mehr zutraut. All das ist ein intensiv geführter Diskurs in der Europäischen Union, aber heute und in den Tagen davor ist es anders: Die Europäische Union spricht mit einer Stimme. Die Europäische Union bekennt sich zu einem gemeinschaftlichen Vorgehen, und dieses gemeinschaftliche Vorgehen ist in dieser Zeit der Not, in dieser unglaublichen Krise und Dramatik für die Menschen in der Ukraine so wichtig und gleichzeitig für uns in der Europäischen Union so einend.
Die Europäische Union hat klargemacht, dass sie klare Zeichen setzen wird – übersetzt: Sanktionen –, wenn es darum geht, demjenigen Einhalt zu gebieten, der jetzt glaubt, die Geschichte revidieren zu müssen, aus der Erkenntnis, dass Krieg das schlechteste aller Mittel ist, um tatsächlich Politik zu gestalten, denn sie ist dann mit Blut und Elend gestaltet. Die Union hat sich dazu bekannt, klar und geeint mit Sanktionen gegen die Russische Föderation aufzutreten.
Es gibt einen Aspekt, der im Vorfeld immer wieder diskutiert worden ist. Es ist ein kleines, aber nicht unwesentliches Detail. Erinnern Sie sich gemeinsam mit mir daran, die oft gestellte Frage war: Ist Nord Stream 2, die Erdgasleitung, denn gar kein Thema von Sanktionen? Kann es sein, dass der Zynismus so groß ist, dass man dieses Projekt einfach durchlaufen lässt, obwohl so viel Unrecht geschieht? Die Europäische Union hat
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