Parlamentskorrespondenz Nr. 533 vom 01.07.2004

SOLL GEBÄRDENSPRACHE ALS MINDERHEITENSPRACHE ANERKANNT WERDEN?

Abgeordnete und Experten diskutieren bei Hearing im Parlament

Wien (PK) - Um die Anerkennung der Gebärdensprache als Minderheitensprache und die Förderung von gehörlosen und hörbehinderten Menschen ging es heute bei einem Hearing im Parlament. Dabei sprachen sich alle geladenen Expertinnen und Experten für eine Anerkennung der Gebärdensprache in Österreich aus, warnten zum Teil aber davor, als Folge eines solchen Schrittes die Vermittlung der Lautsprache zu vernachlässigen.

Für einen Großteil der gehörlosen und hörbehinderten Kinder sei die Lautsprache die Erstsprache, meinte etwa die Leiterin des Bundesinstituts für Gehörlosenbildung in Wien, Katharina Strohmayer, und plädierte wie andere ExpertInnen für die freie Wahl der Eltern. Der Präsident des Österreichischen Schwerhörigenbundes, Johann Neuhold, qualifizierte das Erlernen einer gemeinsamen Sprache von Hörenden und Hörbeeinträchtigten als unerlässlich. Helene Janker, Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes, und Florian Gevogl vom Wiener Gehörlosenverband WITAF machten dem gegenüber auf die besondere Bedeutung des Erlernens der Gebärdensprache aufmerksam und werteten die Möglichkeit der Verwendung der Gebärdensprache als Menschenrecht.

Eingangs des Hearings bedauerten SPÖ, Grüne und Freiheitliche, dass die zuständige Ministerin Elisabeth Gehrer aufgrund des parallel tagenden Wissenschaftsausschusses beim Hearing nicht anwesend sei, und richteten an sie den Appell, wenigstens eine Stunde vorbeizukommen. Abgeordnete Theresia Haidlmayr (G) meinte in diesem Zusammenhang, die Anwesenheit der Ministerin wäre gerade deshalb besonders wichtig, weil diese einer Anerkennung der Gebärdensprache skeptisch gegenüber stehe. Ein von ihr eingebrachter formeller Antrag auf Teilnahme der Ministerin am Hearing wurde jedoch von den beiden Koalitionsparteien abgelehnt.

Durchgeführt wurde das Hearing vom Unterausschuss des Verfassungsausschusses, der zu diesem Thema eingerichtet wurde. Ihm gehören insgesamt 11 Abgeordnete an (5 ÖVP, 4 SPÖ, 1 FPÖ, 1 G), den Vorsitz führt SPÖ-Mandatarin Christine Lapp. Basis für die Beratungen bilden ein Entschließungsantrag der Grünen, ein Antrag der SPÖ sowie eine Petition und eine Bürgerinitiative des Österreichischen Gehörlosenbundes.

Der Opposition geht es in ihren Anträgen im Wesentlichen um eine Anerkennung der Österreichischen Gebärdensprache als Minderheitensprache bzw. um die Verankerung der Österreichischen Gebärdensprache in der Verfassung. Die derzeitige Situation sei unbefriedigend, meint etwa die SPÖ in ihrem Antrag, da in der Schulzeit in erster Linie die Kommunikation zwischen Gehörlosen und Hörenden gelehrt und vermittelt, die für Gehörlose so wichtige Gebärdensprache hingegen zu wenig gefördert würde. Auch der Gehörlosenbund fordert eine umfassende Neuorientierung der Gehörlosenbildung in den Bereichen Frühförderung, Schulen, Berufsausbildung und Universitäten. Die Grünen machen geltend, dass bereits in 8 der 15 "alten" Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Gebärdensprache als Minderheitensprache anerkannt sei.

Als erste Expertin kam Helene Jarmer, Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes, zu Wort. Sie machte auf die Probleme von Gehörlosen in Österreich aufmerksam und meinte, die Betroffenen fühlten sich durch die Nichtanerkennung der Gebärdensprache in ihren Menschenrechten beschnitten. Es sei ihnen nicht möglich, ihre eigene Sprache zu sprechen.

Jarmer gab zu bedenken, dass die Gebärdensprache eine Sprache mit eigener Syntax und Grammatik sei, wobei die Grammatik mit der chinesischen Grammatik verglichen werden könne. Mit der Gebärdensprache könne man alles zum Ausdruck bringen, genau so wie in anderen Sprachen. Gleichzeitig sei es für die Gehörlosen aber auch wichtig, sagte Jarmer, Kompetenz in der Laut- und Schriftsprache zu erlangen.

In Österreich sei man von einer adäquaten Förderung gehörloser und hörbehinderter Kinder weit entfernt, klagte Jarmer. Derzeit erfolge die meiste Förderung innerhalb der eigenen Familie, die aber oft überfordert sei. Studien zeigten, dass gehörlose Kinder mit sechs Jahren oft den selben Wortschatz aufwiesen wie zwei- bis dreijährige hörende Kinder. Zudem würden viele Gehörlose und Hörbehinderte nach dem Sonderschullehrplan unterrichtet, ohne dass dies ihren Eltern bewusst sei. Das Bildungssystem in Österreich verhindere, dass Gehörlose und Schwerhörige zu selbstbewussten, wissenden Erwachsenen heranwachsen, bemängelte Jarmer.

Besonders enttäuscht zeigte sich die Expertin, dass sich in den letzten Jahren, wie sie meinte, nichts verändert habe. Und das, obwohl es bereits in anderen Ländern viele Vorzeigemodelle gebe.

Johann Neuhold, Präsident des Österreichischen Schwerhörigenbundes, betonte, die Forderung nach Anerkennung der Gebärdensprache sei durchaus unterstützenswürdig, er gab aber zu bedenken, dass für die größte Zahl der Hörbehinderten und Schwerhörigen die Gebärdensprache keine Lösung darstelle. Es sei generell abzulehnen, der Gebärdensprache einen so großen Rang einzuräumen, meinte er, Schwerhörige müssten neben dem Recht auf Gebärdensprache auch das Recht auf lautsprachliche Kommunikation haben und entsprechend gefördert und unterstützt werden.

Neuhold hält das Lernen einer gemeinsamen Sprache von Hörenden und Hörbeeinträchtigten für unerlässlich. Gebärdensprache alleine könne für die Betroffenen zu Benachteiligungen führen, da sie im täglichen Leben von Dolmetschern abhängig wären. In diesem Zusammenhang wies Neuhold darauf hin, dass Hörbehinderte und Gehörlose bei entsprechender Frühförderung eine beachtliche Lautsprachenkompetenz entwickelten. In diesem Sinn sprach er sich für eine bilinguale Förderung, also Lautsprache und Gebärdensprache, aus.

Franz Jank vom Verein "Hallo Hört!", ein Salzburger Verein zur Förderung und Integration hörgeschädigter Kinder und Jugendlicher, verwies darauf, dass er selbst eine gehörlose Tochter habe, die nach der Pflichtschule die Graphische Lehranstalt in Wien besuchte und immer lautsprachlich orientiert unterrichtet worden sei. Sie verwende Lautsprache und Gebärdensprache, skizzierte er.

Jank plädierte für die Anerkennung der Gebärdensprache als Minderheitensprache, machte aber gleichzeitig auf die Bedeutung von lautsprachlichem Unterricht für hörbeeinträchtigte Kinder aufmerksam. Dafür brauche man aber verschiedenste technische Unterstützungen. Es gehe nicht um ein Gegeneinander, sondern um ein Miteinander, betonte er.

Jank wies in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass von zirka 450.000 hörbeeinträchtigten Menschen in Österreich 70 % sechzig Jahre und älter seien. Diese Altersschwerhörigen würden die Gebärdensprache nicht mehr erlernen, aber auch diese Gruppe brauche Unterstützung, wie beispielsweise Hörhilfen und Untertitel im Fernsehen. 

Katharina Strohmayer, Direktorin des Bundesinstituts für Gehörlosenbildung in Wien, erklärte, Gebärdensprache sei ein wichtiges Kommunikationsmittel vieler gehörloser Menschen. Sie gab aber zu bedenken, dass es drei verschiedene Systeme gebe, nämlich die lautsprachlich unterstützte Gebärde (LUG), die lautsprachlich begleitende Gebärde (LBG) und die österreichische Gebärdensprache mit eigener Grammatik (ÖGS).

Strohmayer erachtet die freie Wahl der Eltern im Hinblick auf die verschiedenen Systeme als wichtig. Überdies wies sie auf neue medizinische Möglichkeiten wie Implantate hin. 90 % der Eltern seien hörend, betonte sie, und wollten, dass auch ihr Kind höre.

Wenn man davon ausgehe, dass gehörlos sein bedeute, einen Hörverlust über 90 Dezibel zu haben, dann seien, so Strohmayer, 1 % aller hörbeeinträchtigten Menschen gehörlos. Von 70.000 Säuglingen pro Jahr würden zwölf bis fünfzehn gehörlos geboren. Viele dieser Kinder erhielten aber Implantate und hätten damit die Lautsprache als Erstsprache.

Es sei aber so, unterstrich Strohmayer, dass nicht alle gehörlosen Kinder die Lautsprache erlernen könnten bzw. manche die Gebärdensprache bevorzugten. Auch für diese müsse es Möglichkeiten geben, man müsse aber die Relationen berücksichtigen. Positive Erfahrungen gibt es der Expertin zufolge mit Gruppenintegration von Hörbehinderten in Schulen, wo mehrere Betroffene gemeinsam eine Klasse besuchten. Ein Schulversuch in Wien mit bilingualem Unterricht wird ihr zufolge hingegen nicht gut angenommen.

Die Darstellung, wonach alle Gehörlosen ausschließlich nach dem Sonderschullehrplan unterrichtet würden, wies Strohmayer zurück. Allerdings hätten 50 % der gehörlosen Kinder zusätzliche Behinderungen, skizzierte sie. Große Bedeutung hat ihrer Meinung nach die bestehende mobile Frühförderung.

Gerhard Hesse vom Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes erklärte, da die Gebärdensprache eine eigenständige Sprache sei, bedürfe es, um sie anzuerkennen, einer verfassungsrechlichen Verankerung. Das Erlassen beispielsweise einer Amtssprachenverordnung reiche nicht. Im Übrigen machte Hesse darauf aufmerksam, dass in Verwaltungsverfahren und bei Gerichten seit langem die Verwendung der Gebärdensprache möglich sei und die Kosten für den Dolmetsch übernommen würden.

Wilfried Schögl, Leiter der Landes-Lehranstalt für Hör- und Sehbildung, erklärte, sein Institut habe bereits sehr früh mit der Integration sinnesbehinderter Kinder begonnen. Die Lehranstalt betreue Kinder begleitend von der Volksschule bis zur Matura.

Schögl wies darauf hin, dass die Mehrheit der betroffenen Kinder ohne Gebärdensprache auskomme, allerdings seien auch viele Kinder mit Implantaten auf die Gebärdensprache angewiesen. Für ihn ist damit, wie er sagte, ein klares Ja zur Gebärdensprache gegeben. Hochgerechnet auf die Bevölkerung in Österreich bräuchten, so Schögl, 0,03 % die Gebärdensprache wirklich.

Florian Gravogl (WITAF) schilderte, er selbst sei zweisprachig aufgewachsen. Da seine Eltern gehörlos seien, sei die Gebärdensprache seine Muttersprache. Gravogl hat, wie er erzählte, eine Lehre bei der Firma Siemens gemacht. Diese habe ein spezielles Projekt angeboten, bei dem der theoretische Unterricht durch Gebärdendolmetscher begleitet wurde. Ohne diese Dolmetschung hätte er niemals so viel Wissen vermittelt bekommen, betonte er.

Für Gravogl ist die Anerkennung der Gebärdensprache daher eine zentrale Forderung. Gehörlose hätten durch fehlende Gebärdendolmetscher nicht die gleichen Chancen wie Hörende. Die Anerkennung der Gebärdensprache wäre, so Gravogl, ein Zeichen des Menschenrechts. Gehörlose Kinder, die von klein auf in Gebärdensprache gefördert würden, hätten einen immensen Wissensvorsprung. Eine Anerkennung der Gebärdensprache sei Voraussetzung für die Betroffenen, sich gleich und akzeptiert zu fühlen.

Universitätsdozent Franz Dotter (Universität Klagenfurt) sah die Anerkennung der Gebärdensprache als Menschenrecht und meinte, es habe vor allem um die Selbstbestimmung zu gehen. Jeder, der sich für den Weg der Gebärdensprache, sei es als Erst-, Zweit- oder Drittsprache entscheidet, sollte das Recht auf volle Förderung erhalten. Sämtliche Maßnahmen müssten daher auf das abstellen, was die Betroffenen wünschen.

Heftige Kritik übte er an der Stellungnahme des Bildungsministeriums, die er als "pure Frechheit" und Ausdruck von Unsachlichkeit und Einseitigkeit qualifizierte.

Verena Krausneker (Institut für Erziehungswissenschaften, Universität Wien) bemerkte, Österreich stehe im internationalen Vergleich hinsichtlich der sprachrechtlichen Situation von Gehörlosen weit im Abseits. Sie erinnerte an eine Reihe von internationalen Dokumenten, die die Anerkennung der Gebärdensprache fordern.

Krausneker setzte sich in ihrem Statement mit dem Spracherwerb auseinander und betonte, der Zugang zur deutschen Sprache als zweite Sprache für Gehörlose könne nur auf der Beherrschung der Gebärdensprache aufbauen. Sie verweis zudem auf Studien, denen zufolge die Kenntnis der Gebärdensprache ausschließlich positive Wirkungen auf den Bildungserfolg auslöse. (Fortsetzung)