Parlamentskorrespondenz Nr. 851 vom 05.11.2008

Toptan: Türkei braucht EU, aber die EU braucht auch die Türkei

Türkischer Parlamentspräsident im Gespräch mit Abgeordneten

Wien (PK) –Im Rahmen seines viertägigen Österreich-Besuchs traf der Präsident der Großen Nationalversammlung der Türkei, Köksal Toptan, mit Mitgliedern des Außenpolitischen Ausschusses zu einem Gespräch im Hohen Haus zusammen. Bei der Unterredung, die vom Dritten Präsidenten des Nationalrats Martin Graf geleitet wurde, standen vor allem der Annäherungsprozess der Türkei an die EU, die innenpolitischen Reformen, die Beziehungen zu Armenien sowie das Staudammprojekt Ilisu im Mittelpunkt. Von österreichischer Seite nahmen noch SPÖ-Klubobmann Josef Cap, die Abgeordneten Gerald Grosz (B) und Ulrike Lunacek (G) sowie Bundesrat Efgani Dönmez (G) teil.

Klubobmann Josef Cap sprach zunächst den Annäherungsprozess der Türkei an die EU an und gab zu bedenken, dass die geo- und sicherheitspolitische Lage der Türkei die Union vor große Herausforderungen stellen würde. Er war der Meinung, dass die EU in den letzten Jahren zu schnell gewachsen sei und im Moment an die Grenzen ihrer Möglichkeiten angelangt sei. Abgeordneter Martin Graf war der Auffassung, dass es sich dabei um eine hochpolitische Frage handle. Auf jeden Fall sollte man vorurteilsfrei an die Gespräche  herangehen und das Ergebnis nicht vorwegnehmen.

Köksal Töptan, der von einer großen Delegation begleitet wurde, die sich sowohl aus Abgeordneten der Regierungspartei AKP als auch der Opposition zusammensetzte, sah in der geopolitischen Lage seines Landes einen Vorteil. Sollte die Türkei der Union nicht beitreten, würde die EU erst recht mit allen daraus entstehenden Problemen konfrontiert werden. Schon jetzt spiele die Türkei eine wichtige Rolle in der Bekämpfung des Waffen- und des Drogenhandels sowie des Schlepperwesens in der Region, betonte Töptan. Außerdem sei es ein wichtiges Anliegen seiner Regierung, radikale Strömungen im Nahen Osten entschieden entgegen zu treten. Auch unter dem Aspekt der Energiesicherheit  - viele Erdöllieferungen nach Europa laufen über die Türkei – nehme sein Land eine Schlüsselposition ein.

Natürlich brauche die Türkei die EU, meinte Töptan, aber die EU brauche auch die Türkei.

Abgeordneter Gerald Grosz (B) freute sich über die Gelegenheit, mit türkischen Parlamentskollegen über aktuelle Themen sprechen zu können. Er war der Auffassung, dass derzeit alle österreichischen Parteien die Entwicklung der EU, vor allem seit dem Scheitern des Vertrags von Lissabon, mit Sorge betrachten. Bevor über den Betritt von weiteren Ländern entschieden wird, müssten zunächst die Demokratiedefizite in der EU selbst behoben und vor allem eine stärkere Einbeziehung der Bevölkerung gewährleistet werden.

Abgeordnete Ulrike Lunacek (G) stellte einleitend fest, dass die Grünen die einzige Partei in Österreich sind, die einen Beitritt der Türkei zur EU grundsätzlich befürworten. Ihre Fraktion anerkenne auch die Anstrengungen von Seiten der Türkei bezüglich der Ausweitung der Rechte der Frauen, der Kurden sowie im Medienbereich. Allerdings müsse noch einiges getan werden, meinte Lunacek, derzeit sei die Türkei für einen Beitritt noch nicht bereit. Die G-Abgeordnete stellte eine Reihe von Fragen, die u.a. die Reform des "Türkentum-Paragraphen", den Prozess im Mordfall Hrant Dink sowie die Beziehungen zu Armenien, die Unterzeichnung des Abkommens über das Verbot von Streumunition sowie die Rechte von homosexuellen Menschen betrafen. Ihr Parteikollege Efgani Dönmez erkundigte sich nach dem Staudammprojekt Ilisu und stellte die Frage, wie nach einem eventuellen Ausstieg von Österreich, Deutschland und der Schweiz vorgegangen wird.

Der AKP-Politiker Töptan, der auf eine lange politische Karriere zurückblicken kann und nun seit August 2007 das Amt des Parlamentspräsidenten bekleidet, berichtete über die zahlreichen Reformen in der Türkei, die vor allem in Richtung mehr Demokratisierung gegangen sind. Als Beispiel führte er an, dass die Türkei derzeit das modernste Strafrecht in Europa hat. Es sei allen klar, dass trotzdem noch viel getan werden müsse, aber wenn die Türkei alle Bedingungen der EU einmal erfüllt, dann sollte man seinem Land auch vorbehaltlos gegenübertreten, wünschte er sich.

Bezüglich des Gerichtsprozesses in der Causa Hrant Dink reagiere die türkische Öffentlichkeit sehr empfindlich, es werde umfassend in den Medien darüber informiert.

Töptan war überzeugt, dass im Hinblick auf die Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien eine neue Ära eingeleitet wurde und positive Entwicklungen zu verzeichnen sind. Er verwies in diesem Zusammenhang auf ein vor kurzem stattgefundenes Treffen zwischen den Präsidenten beider Länder. Zu dem von der Abgeordneten Lunacek angesprochenen Prozess, bei dem es um ein mögliches Verbot eines Homosexuellenverbands geht, könne er nichts Näheres sagen, hier sei die Justiz am Wort. Allerdings habe man in der letzten Zeit eine Gesetzesänderung beschlossen, wodurch ein Verbot von Vereinen grundsätzlich erschwert werde. Der Abgeordneten Lunacek teilte Töptan weiters mit, dass es in der Südosttürkei noch sehr viele Landminen gibt, die spätestens im Jahr 2014 alle entfernt sein sollten. Solange dieses Vorhaben noch laufe, werden aber keine neuen Abkommen unterzeichnet, erklärte er. Was das von Dönmez angesprochene Staudammprojekt Ilisu angeht, so sei dies sehr wichtig für die Türkei, vor allem im Hinblick auf die Bewässerung der Region und die Energiegewinnung. Sollten sich Österreich, Deutschland und die Schweiz daraus zurückziehen, werde die Türkei das Bauvorhaben, das derzeit aufgrund interner Probleme gestoppt wurde, mit eigenen Mitteln weiterführen.

Auf dem Besuchsprogramm von Köksal Toptan steht noch ein Besuch bei Präsident Heinz Fischer am Nachmittag, bevor er morgen seine Heimreise antreten wird. (Schluss)