Parlamentskorrespondenz Nr. 396 vom 27.05.2010

34 Initiativen zur Bewältigung der Krise und Weiterentwicklung der EU

Bundeskanzler berichtet über das aktuelle EU-Arbeitsprogramm

Wien (PK) – Die Europäische Kommission wird sich im Jahr 2010 schwerpunktmäßig auf vier Aktionsbereiche konzentrieren: die Bewältigung der Krise und die Bewahrung der sozialen Marktwirtschaft in Europa, die Erarbeitung einer Agenda für Bürgernähe, die Entwicklung einer kohärenten Außenpolitik sowie die Modernisierung der Arbeitsweise der EU. Das geht aus einem gemeinsamen Bericht von Bundeskanzler Werner Faymann und Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek an den Nationalrat über aktuelle EU-Vorhaben in ihrem Zuständigkeitsbereich (III-140 d.B. ) hervor. Konkret geplant sind demnach 34 strategische Initiativen, weitere 282 werden in Erwägung gezogen. Außerdem stehen im laufenden Jahr auch die vollständige Umsetzung des Vertrags von Lissabon und die Annahme eines Aktionsplans zur engeren Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres auf der Agenda.

Ein Schwerpunkt bei den voraussichtlich noch insgesamt vier Tagungen des Europäischen Rates in diesem Jahr – 17. Juni, 16. September, 28./29. Oktober, 16./17. Dezember – wird weiterhin die Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise sein. So werden sich die Staats- und Regierungschefs beim nächsten EU-Gipfel etwa mit den Fortschritten bei der Verschärfung der Finanzmarktvorschriften und bei der Reform der Finanzmarktaufsicht sowie mit möglichen Ausstiegsstrategien aus den Unterstützungspaketen für den Finanzsektor auseinandersetzen und über eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitik und die nachhaltige Stabilisierung der öffentlichen Finanzen diskutieren. Österreich begrüßt dabei, wie es im Bericht heißt, die gemeinsamen Anstrengungen zur Reform der internationalen Finanzarchitektur und setzt sich für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer sowie die Beteiligung des Bankensektors an den Kosten der Krise ein.

Um die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu sichern und weiter zu stärken, wollen die EU-Länder im Juni außerdem das Nachfolgeprogramm der im Jahr 2010 auslaufenden Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung formell annehmen. Die Strategie "Europa 2020" wird sich schwerpunktmäßig auf die Bereiche Wissen und Innovation, Nachhaltigkeit, ein hohes Beschäftigungsniveau und soziale Eingliederung konzentrieren. Hierzu wurden bereits entsprechende Kernziele vereinbart und die Kommission mit der Erarbeitung von Leitinitiativen beauftragt, Details müssen zwischen den EU-Ländern aber noch abgestimmt werden. Auch die Festlegung nationaler Ziele auf Basis dieser Kernziele ist noch im Diskussionsstadium. Als Leitinitiativen geplant sind etwa eine "digitale Agenda für Europa" mit dem Hauptziel einer möglichst raschen Implementierung eines "Hochgeschwindigkeits-Internet" in ganz Europa (bis 2013), ein "Europäischer Plan für Forschung und Innovation" und ein Maßnahmenbündel unter dem Titel "Ressourcenschonendes Europa". Außerdem strebt die die EU-Kommission zur Beseitigung bestehender Hemmnisse für das Wirtschaftswachstum einen vertieften und verbesserten Binnenmarkt an.

Dauerbrenner auf EU-Ebene bleibt weiter der Klimaschutz. Nach den eher enttäuschenden Ergebnissen des Klimagipfels in Kopenhagen gilt es unter anderem die Frage zu klären, ob die Europäische Union ihre ambitionierten Treibhausgasreduktionsziele im Alleingang weiter verfolgen soll und inwieweit das vereinbarte Klima- und Energiepaket zu überarbeiten ist. Österreich drängt dabei laut Bericht auf eine befriedigende Lösung des "Carbon Leakage Problem" – die Verlagerung industrieller Produktion aus Europa aufgrund gesteigerter Kosten durch den Emissionshandel – und sieht keinen Anlass, seitens der EU das Treibhausgasreduktionsziel einseitig von 20 % auf 30 % zu erhöhen. Ziel der Regierung ist weiterhin ein umfassendes, globales und rechtsverbindliches Abkommen, um das in Kopenhagen festgelegte Ziel zu erreichen, den globalen Temperaturanstieg gegenüber vorindustriellen Werten auf unter 2 Grad zu begrenzen.

In Bezug auf die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit zwischen den EU-Ländern ist, aufbauend auf dem Stockholm-Programm, die Annahme eines Aktionsplans in Aussicht genommen, der auch die Bereiche Migration und Asyl umfasst. Daneben soll weiter am Vorhaben eines gemeinsamen europäischen Asylsystems mit Zieldatum 2012 gearbeitet werden. Aus österreichischer Sicht ist bei der Entwicklung des Maßnahmenkatalogs, wie es im Bericht heißt, insbesondere darauf zu achten, dass geeignete Schritte zur Verbesserung der Bekämpfung von Kriminalität und illegaler Zuwanderung gesetzt sowie bei allen Vorhaben zur besseren Steuerung der legalen Migration die langfristigen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die soziale Dimension mit bedacht werden.

Daneben listet der Bericht die Überprüfung des EU-Haushalts und der erneuerten Sozialagenda, die erneuerte EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung und den Beitrittsantrag Islands als aktuelle Themen des Europäischen Rats auf. Die Regierung rechnet damit, dass im Juni 2010 beschlossen wird, die Beitrittsverhandlungen mit Island zu beginnen.

Vertrag von Lissabon: Umsetzung offener Punkte bis Jahresende

Was die Umsetzung des Vertrags von Lissabon betrifft, sind noch einige Punkte offen. So bedarf es etwa noch konkreter Ausführungsbestimmungen für das neue Instrument der Europäischen Bürgerinitiative, wobei die spanische EU-Präsidentschaft eine politische Einigung beim Juni-Gipfel anstrebt. Unter anderem ist noch zu klären, aus wie vielen Mitgliedsländern Unterstützungserklärungen für eine gültige Bürgerinitiative vorliegen müssen und wie die Identität der UnterzeichnerInnen geprüft wird.

Damit die im Vertrag von Lissabon verankerte Erhöhung der Sitze im Europäischen Parlament bereits vor den nächsten EP-Wahlen umgesetzt werden kann, bedarf es einer eigenen Regierungskonferenz. Diese könnte laut Bericht eventuell am Rande des Juni-Gipfels stattfinden und entsprechende Übergangsbestimmungen beschließen. Bis zu deren Inkrafttreten sollen die zusätzlichen 18 EP-Abgeordneten als BeobachterInnen an den Arbeiten des Europäischen Parlaments teilnehmen. Davon betroffen ist auch Österreich, das künftig mit 19 statt bisher 17 MandatarInnen im Europäischen Parlament vertreten sein wird und die beiden zusätzlichen ParlamentarierInnen bereits bei den letzten Wahlen "auf Vorrat" mitgewählt hat.

Ausständig sind weiters noch die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes – Österreich besteht hier auf die Gewährung konsularischer Unterstützung für EU-Bürger –, der Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention und eine neue Komitologie-Verordnung, die die rechtliche Grundlage für die Delegation von Befugnissen an die Europäische Kommission bildet. Spätestens bis Ende des Jahres sollten idealerweise, so der Bericht, alle Schritte zur Umsetzung des Vertrags von Lissabon vollzogen sein.

Bemühungen um bessere Rechtsetzung werden fortgesetzt

Weiter fortgesetzt auf EU-Ebene werden auch die Bemühungen um eine bessere Rechtsetzung und eine Reduzierung der Verwaltungslasten für Unternehmen. Vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise soll das ordnungspolitische Umfeld in Europa vereinfacht und modernisiert und die Arbeitsweise der EU an die aktuellen Herausforderungen angepasst werden. Laut Bericht hat die EU-Kommission in diesem Sinn 46 Vereinfachungsinitiativen und 56 Initiativen zur Rücknahme anhängiger Vorschläge mit geringer Erfolgsaussicht in Aussicht genommen.

Besonderes Augenmerk will die Kommission außerdem auf die Folgenabschätzung ihrer Initiativen – etwa beschäftigungspolitische und soziale Auswirkungen – und auf die korrekte Umsetzung neuer Rechtsakte durch die EU-Mitgliedstaaten legen. Ausgewählte Politikbereiche sollen darüber hinaus "Eignungstests" unterzogen werden, in deren Rahmen die Gesamtheit der Vorschriften auf übertriebenen Verwaltungsaufwand, Überschneidungen, Lücken, Unvereinbarkeiten und veraltete Maßnahmen abgeklopft wird. Vier Pilotversuche – in den Bereichen Umwelt, Verkehr, Beschäftigung und Sozialpolitik sowie Industriepolitik – werden 2010 in Angriff genommen.

Informationstechnologie, Datenschutz und Kohäsionspolitik

Bundeskanzler Faymann informiert die Abgeordneten im Bericht darüber hinaus über aktuelle EU-Vorhaben in den Bereichen Informations- und Kommunikationstechnologie, Kohäsions- und Regionalpolitik, Öffentliches Auftragswesen und Medienangelegenheiten. Demnach ist etwa eine Überarbeitung bzw. Neufassung der EU-Signatur-Richtlinie geplant, um Fortschritte bei der gegenseitigen Anerkennung elektronischer Signaturen, elektronischer Dokumente und elektronischer Identitäten zu erzielen und damit die grenzüberschreitende Nutzung elektronischer Behördendienste zu erleichtern. Ebenso will die EU-Kommission Leitlinien zur internationalen Zusammenarbeit im Bereich Internet-Sicherheit vorlegen, um technische Sicherheitsmechanismen zu forcieren, eine geographische Streuung kritischer Internetressourcen zu erwirken und bei "Cyber-Angriffen" gegenseitige Hilfeleistung und eine koordinierte Wiederherstellung der Betriebskontinuität sicherzustellen. Die Mandatsdauer der Europäischen Agentur für Netz- und Informationssicherheit (ENISA) soll über das Jahr 2012 hinaus verlängert werden.

Auf dem Gebiet des Datenschutzes ist ein neuer umfassender Rechtsrahmen geplant. Zum einen gilt es, die bestehenden Bestimmungen an neue technologische Entwicklungen anzupassen, zum anderen die verschiedenen Rechtsinstrumente formell in Einklang mit dem Vertrag von Lissabon zu bringen. Außerdem stehen unter anderem eine Evaluierung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung sowie Verhandlungen zwischen der EU und den USA über ein Datenschutzabkommen auf der Agenda, um Rechtssicherheit bei der Datenverarbeitung zu erreichen. Österreich begrüßt laut Bundeskanzler Faymann diese Initiative, legt aber Wert darauf, dass ein hohes Datenschutzniveau gewährleistet wird und die Rechtschutzbestimmungen in etwa dem europäischen Standard entsprechen.

Für Herbst 2010 ist die Vorlage des 5. Kohäsionsberichts vorgesehen. Er soll Auskunft über den "wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in Europa" geben und wird voraussichtlich, wie schon die Vorgängerberichte, dazu genutzt, Überlegungen über die "zukünftige Architektur" der europäischen Kohäsions- und Regionalpolitik anzustellen. Die österreichische Regierung setzt sich für eine Weiterführung der Kohäsionspolitik ein, fordert unter anderem aber eine Reduktion der ihrer Ansicht nach überbordenden Kontrollerfordernisse. Auf dem Weg ist auch die von Österreich initiierte EU-Strategie für den Donauraum, ab Juni 2010 sollen erste Textentwürfe der Kommission mit den beteiligten Staaten vorabgestimmt werden.

Zahlreiche Aktivitäten setzt die EU-Kommission, um den Bürgerinnen und Bürgern die Leistungen der Europäischen Union näher zu bringen und Europa besser zu vermitteln. Dabei kommt auch die bereits im Jahr 2008 zwischen Österreich und der EU-Kommission abgeschlossene "Managementpartnerschaft" zum Tragen, die der Umsetzung gemeinsamer Kommunikationsprojekte mit EU-Bezug dient. Als Beispiele werden etwa die Aktionen "Reportagen aus Europa", "Europa erfahren" und "Europa an deiner Schule" genannt.

EU-Vorhaben im Bereich Gleichstellung von Frauen und Männern

Als wichtiges Anliegen der EU bezeichnet der Bericht die Gleichstellung von Frauen und Männern. So hat etwa das Ratspräsidentschafts-Trio der laufenden 18 Monate – Spanien, Belgien und Ungarn – unter anderem das Ziel formuliert, "Gender Mainstreaming" in die Strategie "Europa 2020" zu integrieren und die Geschlechter-Gleichstellung in allen EU-Politiken zu berücksichtigen. Konkret empfehlen die drei Länder etwa, europaweit eine Frauen-Beschäftigungsquote von 75 % anzustreben, stereotype Vorstellungen von Geschlechterrollen zu bekämpfen, die Situation der Frauen am Arbeitsmarkt zu verbessern, die Anstrengungen zur Beseitigung des Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen zu verstärken, die Bemühungen um eine gleiche Aufteilung der privaten Versorgungspflichten zwischen Männern und Frauen zu intensivieren und Maßnahmen für eine gleiche Beteiligung der Geschlechter an Machtpositionen und politischen Prozessen zu ergreifen.

Besonders hohe Priorität bei der spanischen Präsidentschaft hat außerdem der Kampf gegen Gewalt gegen Frauen und der Schutz der Opfer von Gewalt. So sollen dem Bericht zufolge erste Schritte für eine Europäische Beobachtungsstelle gegen Gewalt gegen Frauen gesetzt werden, zudem ist eine europaweite, kostenlose Telefonhotline für weibliche Gewaltopfer geplant. Auch die EU-Kommission streicht in ihrer "Frauen-Charta" die Würde und Unversehrtheit der Frau – neben gleicher wirtschaftlicher Unabhängigkeit, gerechter Entlohnung und gleichberechtigter Teilhabe an Entscheidungsprozessen – als wichtigen Grundsatz ihrer Gleichstellungspolitik hervor.

Konkret in der Pipeline sind Richtlinienvorschläge, die unter anderem einen besseren Gesundheitsschutz von schwangeren und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz, die Vermeidung von Benachteiligungen selbständiger Unternehmerinnen sowie eine Rahmenvereinbarung über Elternurlaub zum Ziel haben. (Schluss)