Parlamentskorrespondenz Nr. 559 vom 30.06.2010

Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag passiert Verfassungsausschuss

Neben SPÖ und ÖVP sorgen Grüne und BZÖ für breite Mehrheit

Wien (PK) – Die begleitende Gesetzesnovelle zum Vertrag von Lissabon hat heute mit breiter Mehrheit den Verfassungsausschuss des Nationalrats passiert. Nach Durchführung eines Begutachtungsverfahrens und intensiven Beratungen stimmten SPÖ, ÖVP, Grüne und BZÖ dem Gesetzesvorhaben zu. Damit dürfte die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit im Nationalrat gesichert sein. Der Beschluss kann bereits bei den Plenarsitzungen in der kommenden Woche erfolgen. Ausschussvorsitzender Peter Wittmann lobte die konstruktiven Verhandlungen und sprach von einem "herzeigbaren" Ergebnis.

Basis für den Beschluss bildete ein gemeinsamer gesamtändernder Abänderungsantrag der Koalitionsparteien und der Grünen zu einem Gesetzesvorschlag des Bundesrats . Ein ursprünglicher Antrag der Koalitionsparteien gilt als miterledigt.

Mit der Lissabon-Begleitnovelle werden die zusätzlichen Mitspracherechte, die der Vertrag von Lissabon den nationalen Parlamenten in Angelegenheiten der Europäischen Union eingeräumt hat, in der österreichischen Verfassung verankert. Außerdem werden jene Bestimmungen, die die geltenden Mitwirkungsrechte des Nationalrats und des Bundesrats bei EU-Vorhaben regeln, neu formuliert und an aktuelle Erfordernisse angepasst.

Neu in die Bundesverfassung aufgenommen werden insbesondere die Instrumente der "Subsidiaritätsrüge" und der "Subsidiaritätsklage". Sowohl der Nationalrat als auch der Bundesrat bzw. die dafür zuständigen Ausschüsse haben demnach künftig die Möglichkeit, Richtlinienentwürfe oder andere Gesetzgebungsinitiativen der Europäischen Kommission zu beeinspruchen, wenn diese ihrer Meinung nach überschießend sind und zu sehr in die Rechte der Mitgliedstaaten eingreifen. Für eine solche Subsidiaritätsrüge haben Nationalrat und Bundesrat laut Vertrag von Lissabon acht Wochen Zeit. Sollte ein Drittel aller nationalen Parlamente einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip orten, ist die EU-Kommission gezwungen, ihr Vorhaben zu überdenken.

Um Anliegen der Länder Rechnung zu tragen, sieht der Gesetzesantrag eine Verpflichtung des Bundesrats vor, im Rahmen von Subsidiaritätsprüfungsverfahren eingelangte Stellungnahmen der Landtage in Erwägung zu ziehen und die Landtage über beschlossene Subsidiaritätsrügen zu unterrichten.

Bei einem bereits erlassenen Gesetzgebungsakt können der Nationalrat und der Bundesrat künftig innerhalb von zwei Monaten Klage beim Europäischen Gerichtshof erheben. Für eine solche Subsidiaritätsklage ist in beiden Kammern jeweils die einfache Stimmenmehrheit ausreichend, eine Delegierung der Entscheidung an den jeweiligen EU-Ausschuss ist, anders als bei der Subsidiaritätsrüge, jedoch nicht möglich.

Besonders starke Mitwirkungsrechte für das Parlament sind für den Fall vorgesehen, dass auf EU-Ebene die Anwendung der Brückenklausel (Passarelle) zur Diskussion steht, also in einem bestimmten Politikbereich vom Einstimmigkeitserfordernis oder von einem besonderen Gesetzgebungsverfahren abgegangen werden soll. Gemäß dem neuen Artikel 23i B-VG soll das jeweils zuständige österreichische Regierungsmitglied einer diesbezüglichen Initiative nur dann zustimmen dürfen, wenn der Nationalrat und der Bundesrat dies ausdrücklich mit Zweidrittelmehrheit genehmigen. Auch nach einem Beschluss auf EU-Ebene ist eine gemeinsame Ablehnung der Initiative durch Nationalrat und Bundesrat innerhalb der von der EU vorgesehenen sechs-Monate-Frist möglich.

Artikel 23i legt außerdem fest, dass auch neue Steuern zur Finanzierung der Europäischen Union einer Genehmigung des Nationalrats und des Bundesrats mit Zwei-Drittel-Mehrheit bedürfen. Für andere "Eigenmittelbeschlüsse" des Rates reicht die Zustimmung des Nationalrats aus. Beschlüsse des Nationalrats und des Bundesrats nach diesem Artikel sind aus Gründen der Transparenz im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen.

Schließlich wird mit dem Gesetzentwurf die von der Regierung bereits geübte Praxis, den Nationalrat und den Bundesrat jeweils zu Beginn eines Kalenderjahres über die in diesem Jahr zu erwartenden Vorhaben der Europäischen Kommission und des Europäischen Rats in den einzelnen Politikfeldern zu informieren, verfassungsrechtlich verankert. Detailbestimmungen dazu sollen in einem eigenen EU-Informationsgesetz geregelt werden. Adaptiert werden auch die Bestimmungen über die Bindungswirkung von Stellungnahmen des Bundesrats zu EU-Vorhaben.

Eine ergänzende Gesetzesänderung stellt sicher, dass bis zur Aufstockung der Sitze Österreichs im Europäischen Parlament von 17 auf 19 Mandate die beiden schon gewählten Abgeordneten als Beobachter in das Europäische Parlament entsendet werden können.

Die neuen Verfassungsbestimmungen stießen bei den Abgeordneten auf breite Zustimmung. Abgeordneter Wilhelm Molterer (V) wies allerdings darauf hin, dass es nun an den Parlamentariern liegen werde, wie sie mit ihren neuen Rechten umgingen. Das Lissabon-Begleitgesetz biete jedenfalls eine gute Grundlage. Die neuen Instrumente der Subsidiaritätsrüge und der Subsidiaritätsklage verglich Molterer mit einer gelben und einer roten Karte im Fußball. Ausdrücklich bedankte er sich für die konstruktive Zusammenarbeit mit den Oppositionsparteien.

SPÖ-Klubobmann Josef Cap gab zu bedenken, dass die neuen Mitspracherechte eine Aufforderung an die nationalen Parlamente seien, untereinander besser zusammenzuarbeiten und sich zu vernetzen. Nur dann würden Subsidiaritätsrügen erfolgreich sein. Die demokratische Weiterentwicklung der Europäischen Union wertete Cap als Chance, um die Identifikation der Bevölkerung mit der EU zu erhöhen. In diesem Zusammenhang kritisiert er allerdings die zögerliche Haltung der Europäischen Kommission, was die konkrete Ausgestaltung der neuen europäischen Bürgerinitiative betrifft.

Abgeordneter Alexander Van der Bellen (G) sprach von einer "eleganten verfassungsrechtlichen Umsetzung" der neuen Mitspracherechte des österreichischen Parlaments. Weitere wichtige Schritte wie eine Novellierung der Geschäftsordnung des Nationalrats und die Ausarbeitung des geplanten EU-Informationsgesetzes stehen ihm zufolge aber noch aus. Besonders "interessant" ist für Van der Bellen die neue Formulierung des Artikels 23j, der die Beteiligung Österreichs an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik regelt und dabei die erforderliche Wahrung bzw. Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen ausdrücklich erwähnt.

Seitens des BZÖ wurde die Gesetzesnovelle von den Abgeordneten Ewald Stadler und Herbert Scheibner grundsätzlich positiv bewertet. Man hätte in einzelnen Punkten zwar bessere Formulierungen finden können, meinte Stadler, insgesamt sei es aber ein gutes Gesetz, das etwa dem  Bundesrat die Möglichkeit eröffne, als "Transmissionsriemen" zwischen der EU und den Ländern zu fungieren. Generell unterstrich Stadler, der Vertrag von Lissabon enthalte nicht nur positive Punkte, die Ausweitung der Mitwirkungsrechte der nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten sei aber zu begrüßen.

Abgeordneter Scheibner stellte fest, die vorliegende Gesetzesnovelle zementiere Österreichs Aufgabe der Neutralität ein. Schließlich würden auch die neuen Bestimmungen die Teilnahme Österreichs an Kampfeinsätzen der EU zum Zweck der Friedensschaffung nicht ausschließen. Er unterstütze diese Linie, sagte Scheibner, und sei dafür, dass sich Österreich solidarisch zeige, man müsse aber offen aussprechen, dass die Neutralität in Folge des EU-Beitritts durch eine Bündnisfreiheit abgelöst worden sei.

Ausschussvorsitzender Peter Wittmann konstatierte, bei der vorliegenden Gesetzesnovelle handle es sich vermutlich um die größte Verfassungsreform seit 1929, die vom Parlament selbst initiiert und erarbeitet wurde.

Bericht über aktuelle EU-Vorhaben vertagt

Eingeleitet wurde die heutige Sitzung des Verfassungsausschusses mit einer Diskussion über die aktuellen EU-Vorhaben im Zuständigkeitsbereich des Bundeskanzleramtes und des Frauenministeriums. In einem gemeinsam vorgelegten Bericht informieren Bundeskanzler Werner Faymann und Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek die Abgeordneten unter anderem über die Schwerpunkte der diesjährigen EU-Gipfel, die Pläne der Europäischen Kommission und frauenpolitische Aktivitäten der EU. Die Kommission will sich demnach schwerpunktmäßig auf vier Aktionsbereiche konzentrieren – Bewältigung der Krise und Bewahrung der sozialen Marktwirtschaft in Europa, Erarbeitung einer Agenda für Bürgernähe, Entwicklung einer kohärenten Außenpolitik, Modernisierung der Arbeitsweise der EU – und plant konkret 34 strategische Initiativen.

Staatssekretär Josef Ostermayer wies im Rahmen der Debatte darauf hin, dass einige im Bericht genannte Vorhaben bereits umgesetzt worden seien. So hätten die Staats- und Regierungschefs beim letzten EU-Gipfel die Strategie "Europa 2020" angenommen und die Aufnahme Estlands in die Eurozone gutgeheißen. Noch in Diskussion sei hingegen die EU-weite Einführung einer Bankensteuer. Wenig optimistisch zeigte sich Ostermayer in Bezug auf eine international koordinierte Finanztransaktionssteuer und verwies auf das Ergebnis des G20-Treffens.

Abgeordnete Christine Muttonen (S) äußerte sich darüber erfreut, dass die Strategie "Europa 2020" nicht allein auf mehr Wachstum in Europa abziele, sondern auch dem Bereich der Beschäftigung großes Augenmerk widme. Hochwertige Jobs seien ein wichtiges Instrument zur Armutsbekämpfung, betonte sie und verwies insgesamt auf geplante Strategien zur Förderung der sozialen Eingliederung und zur Bekämpfung von Armut.

Abgeordneter Wilhelm Molterer (V) erachtete es als positiv, dass sich die EU mit der Strategie "Europa 2020" nicht eine Fülle von Zielen gesetzt habe, sondern sich auf einige wesentliche Punkte konzentrieren wolle. Überdies wird ihm zufolge der konkreten Umsetzung der Strategie in den einzelnen EU-Ländern deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt als bei der Vorgängerstrategie.

Abgeordnete Judith Schwentner (G) sprach Gleichbehandlungsfragen an, Abgeordneter Werner Herbert (F) forderte hohe Datenschutzstandards auch auf internationaler Ebene.

Der Bericht wurde mit den Stimmen von SPÖ, ÖVP, FPÖ und Grünen vertagt. Weiters im Verfassungsausschuss zur Diskussion standen eine erneute "Nulllohnrunde" für PolitikerInnern im kommenden Jahr und eine Neuregelung des so genannten Vorrückungsstichtags im öffentlichen Dienst. Die Grünen forderten die Einräumung des Wahlrechts für Strafgefangene, das BZÖ eine umfassende Reform der Schulverwaltung und die FPÖ ein Burka-Verbot. (Fortsetzung)