Sobotka und Kitzmüller: Appell zur Versöhnung für eine gemeinsame Zukunft in einem friedlichen, demokratischen Europa
Veranstaltung im Parlament "Für ein Europa freier Völker und Volksgruppen"
Wien (PK) – Ein Appell zur Versöhnung, zu einer ehrlichen Geschichtsbetrachtung ohne Ressentiments und einer gemeinsamen Zukunft in einem friedlichen, demokratischen Europa, in dem das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben geschützt wird, zog sich heute wie ein roter Faden durch alle Reden im Rahmen der Veranstaltung "Für ein Europa freier Völker und Volksgruppen" im Parlament in der Hofburg. Eingeladen haben dazu Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka und Dritte Präsidentin Anneliese Kitzmüller gemeinsam mit dem Verband der deutschen altösterreichischen Landsmannschaften in Österreich.
"Es ist ein besonderes Kennzeichen eines demokratischen Staates, wie dieser mit seinen Minderheiten umgeht", betonte Sobotka. Aufgabe der Politik sei es, das zu berücksichtigen und ein selbstbestimmtes Leben auf der Basis der Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten. "Das Recht auf Selbstbestimmung der Völker gilt es, auch weiterhin zu schützen. Ein gemeinsames Europa ist ein Schutz für alle", so Kitzmüller.
Die Veranstaltung erinnerte an die 54 Sudetendeutschen, die am 4. März 1919 friedlich für die Eingliederung ihrer Heimatgebiete in Böhmen, Mähren und Österreich-Schlesien in die neu gegründete Republik Deutschösterreich unter Berufung auf das von Präsident Woodrow Wilson proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker demonstriert haben und durch die einschreitende tschechische Miliz getötet wurden. Über hundert Menschen wurden verwundet. Den Festvortrag hielt der Historiker Lothar Höbelt. Einleitende Worte kamen vom Generalsekretär des Verbands der deutschen altösterreichischen Landsmannschaften in Österreich Norbert Kapeller sowie vom Bundesobmann der Sudetendeutschen Landsmannschaft in Österreich Gerhard Zeihsel. Das Totengedenken an die Opfer hielt Domdekan Prälat Karl Rühringer. Für die musikalische Umrahmung sorgte "Harmonia Classica". Unter den rund 250 Gästen befanden sich der ehemalige Nationalratspräsident Andreas Khol sowie Vertreter der Botschaft der Tschechischen Republik und PolitikerInnen aller Parteien.
Sobotka: Es geht um ein selbstbestimmtes Leben auf Basis der Rechtsstaatlichkeit
Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka appellierte einmal mehr, gemeinsam in die Vergangenheit zu blicken, um für die Zukunft Konsequenzen zu ziehen. In diesem Sinne hob er die Bedeutung des Gemeinsamen Österreichisch-Tschechischen Geschichtsbuchs von 20 HistorikerInnen hervor, dessen Aufgabe es ist, die gemeinsame und trennende Geschichte der beiden Länder und ihrer Gesellschaften darzustellen. "Jeder muss sich seiner Geschichte stellen, sonst stellt ihn die Geschichte", rief Sobotka einmal mehr zu einem ehrlichen und ernst gemeinten Geschichtsbewusstsein auf.
Viele hätten 1918 auf die Worte des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson über das Selbstbestimmungsrecht der Völker vertraut, in der Realität hätten die Menschen Hunger, Leid, Flucht und Vertreibung erlitten. Übertroffen habe dies dann der Zweite Weltkrieg und seine Folgen. Als Konsequenz dieser Katstrophen gelte es nun, den Schutz und die Förderung der Rechte von Minderheiten auf multilateraler Ebene zu verankern, wie dies etwa durch das Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten geschehen sei. Es ist seit Juli 1998 in Österreich in Kraft. "Unsere heutige Aufgabe ist es, den unterschiedlichen Sprachgruppen und Ethnien ein selbstbestimmtes Leben zu gewährleisten", unterstrich der Nationalratspräsident.
Sobotka verwies in diesem Zusammenhang auf den in Österreich geltenden Minderheitenschutz durch die Anerkennung der sechs autochthonen Volksgruppen der Slowenen, Kroaten, Ungarn, Slowaken, Tschechen und Roma. Er sehe es aber auch als eine wichtige Aufgabe der Außenpolitik, auf die Situation deutschsprachiger Gruppen in anderen Ländern aufmerksam zu machen – dies ohne Revanchismus, aber "aus dem Bewusstsein heraus, woher wir kommen", so der Nationalratspräsident. Es gehe darum, die Sprache, die Kultur und die Identität zu bewahren – es gehe um ein selbstbestimmtes Leben auf Basis der Rechtsstaatlichkeit. In diesem Sinne werde er auch bei seinem Besuch in Slowenien in der nächsten Woche mit VertreterInnen von Kulturvereinen der Volksgruppe zusammentreffen.
Kitzmüller: Das Recht auf Selbstbestimmung der Völker schützen
Die Dritte Nationalratspräsidentin Anneliese Kitzmüller ging näher auf die tragischen Ereignisse vom 4. März 1919 in Städten der sudetendeutschen Gebiete wie Karlsbad, Kaaden, Mährisch Sternberg, Eger, Mies oder Arnau ein: "Vor 100 Jahren lagen Freiheit und Unterdrückung eng beieinander. Während in Wien am 4. März 1919 die Konstituierende Nationalversammlung zusammentrat, gingen in den Städten des Sudetenlandes die deutschsprachigen Einwohner auf die Straße und folgten somit den Aufrufen aller Parteien zu Demonstrationen, um das proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für sich einzufordern", sagte sie. Wie diese friedlichen Demonstrationen in den Städten endeten, habe auch die Regierung in Wien und die Nationalversammlung entsetzt. So habe der Staatssekretär des Äußeren Otto Bauer eine Note nach Prag geschickt und auch das Präsidiumsmitglied in der Nationalversammlung Karl Seitz habe, so wie Abgeordnete aller Parteien, die Vorfälle verurteilt.
Trotz unterschiedlicher weltanschaulicher Standpunkte hätten all diese Aussagen einen Nenner gehabt, den es auch weiterhin zu schützen gelte: Das Recht auf Selbstbestimmung der Völker. "Dabei geht es nicht um Aufrechnung von Schuld oder gegenseitige Schuldzuweisungen, sondern darum, aus Fehlern und Fehlentwicklungen der Vergangenheit zu lernen", stellte Kitzmüller fest.
Der Versöhnungsgedanke ohne Schuldzuweisung muss im Vordergrund stehen
Auch Norbert Kapeller und Gerhard Zeihsel stellten den Versöhnungsgedanken und die gemeinsame europäische Zukunft in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen. "Versöhnung braucht Wahrheit", so Kapeller. "Wir reichen heute die Hand zur Versöhnung, weit weg von Schuldzuweisungen und Ressentiments. "Unrecht dürfe sich nicht wiederholen, das Gedenken sei Ausdruck der Mahnung für Gegenwart und Zukunft.
Zeihsel unterstrich die Notwendigkeit stärkerer Minderheitenrechte in der EU und eines internationalen Minderheitenschutzes. Er wolle ein solches Europa mit der tschechischen Partnerschaft.
Höbelt: Geschichte in einem breiteren Kontext sehen
Die Geschichte der Völker in einem richtigen und vor allem breiten Kontext zu sehen, dafür plädierte der Historiker Lothar Höbelt. Er merkte an, Geschichte werde oft in ihren kurzfristigen Zusammenhängen gesehen und die Aufarbeitung der Vergangenheit beschränke sich auf Opfer- und Trauerarbeit. Höbelt erläuterte das an der Aussage des Philosophen Rudolf Burger, der die Vergangenheitsbewältigung als "Floskel" bezeichnet. Diese sei aus der Psychoanalyse entlehnt, wo es darum gehe, die Vergangenheit zu bewältigen und dann ad acta zu legen. "Wir wollen die Erinnerung an die Vergangenheit aber wachhalten", betonte Höbelt. "Andere Länder sind uns in diesem Punkt voraus, wenn sie Geschichte in einem weiteren Rahmen betrachten. Man muss die kritischen Punkte schon sehen – aber man muss dann auch stolz sein auf seine Geschichte."
In seiner Festrede erläuterte Höbelt, wie es zu den Geschehnissen rund um die Aufstände Sudetendeutscher in mehreren Städten in Böhmen und Mähren am 4. März 1919 gekommen war. Höbelt wies auf die Ausgrenzung der Verlierer des Ersten Weltkriegs hin, insbesondere Deutschlands und Russlands, als es um die Neuordnung Europas ging. Der Zerfall der Habsburger-Monarchie habe eine gewisse Logik in sich gehabt, nachdem das Kaiserreich den Krieg verloren hatte. Die USA zogen sich in den Isolationismus zurück. Vor diesem Hintergrund wurde am 12. November 1918 die Republik Deutschösterreich ausgerufen und im Februar 1919 die Wahl zur Konstituierenden Nationalversammlung abgehalten. Diese trat am 4. März 1919 zu ihrer ersten Sitzung zusammen – zu einem Zeitpunkt, als die Friedenskonferenz noch nicht begonnen hatte und als eine Reihe von Gebieten noch umstritten war.
Frankreich hatte der Tschechoslowakei versprochen, ihr die Grenzen zuzugestehen, die sie verlangte. In den sudetendeutschen Gebieten der Tschechoslowakei hatten die tschechischen Besatzer verhindert, dass die Menschen zur Wahl gingen. In Wien gab es die Tendenz, Vertreter der Sudetendeutschen, auch ohne gewählt zu sein, in die Konstituierende Nationalversammlung aufzunehmen. Damit wäre ein Drittel der Abgeordneten nicht demokratisch gewählte Repräsentanten gewesen. Dagegen sprachen sich weite Teile der sozialdemokratischen Mehrheit des Landes aus. Vor allem der Obmann der Sozialistischen Partei, Josef Seliger, verlangte von den Abgeordneten, "es sich nicht in den Wiener Fauteuils bequem zu machen", und rief dazu auf, Widerstand an Ort und Stelle zu leisten.
Lothar Höbelt erläuterte die milizartige Zusammensetzung des tschechoslowakischen Militärs. Und so habe sich eine Situation ergeben, in der das Militär die Nerven verlor. Die Folge waren insgesamt 54 Tote und zahllose Verletzte. (Schluss) jan/gb
HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie auf der Website des Parlaments unter www.parlament.gv.at/aktuelles/mediathek/fotos .