Parlamentskorrespondenz Nr. 18 vom 12.01.2023

Rede von Wolfgang Schäuble zur Eröffnung des sanierten Parlamentsgebäudes

Ehemaliger deutscher Bundestagspräsident sieht Vertrauenskrise der repräsentativen Demokratie und zeigt Wege daraus auf

Wien (PK) – Als ein "Fest des Parlamentarismus und der Demokratie" bezeichnete Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages a.D., die Wiedereröffnung des historischen Parlamentsgebäudes in seiner Festrede. In diesem Haus finde die repräsentative Demokratie ein stolzes Zuhause, sagte Schäuble. Das Prinzip der repräsentativen Demokratie, das im Parlamentarismus seinen Ausdruck finde, sei allerdings derzeit in einer schweren Vertrauenskrise, konstatierte der Festredner. In seinen Ausführungen ging er den Gründen für diese Entwicklung nach und versuchte, Wege aufzuzeigen, wie die parlamentarische Debatte wieder den angemessenen Stellenwert erhalten könne.

Repräsentative Demokratie in der Vertrauenskrise

Die Grundsanierung des historisch wertvollen Erbes des Parlamentsgebäudes und seine Weiterentwicklung zur modernen Wirkungsstätte des Parlamentarismus sei ein starkes Zeichen der Wertschätzung für die Demokratie, sagte der Festredner einleitend. Die Würdigung dieser Leistung sei zugleich ein guter Anlass, über den Wert der parlamentarischen Demokratie nachzudenken. Denn die Demokratie müsse immer wieder neu erarbeitet werden, sagte Schäuble. Er widmete seine weiteren Ausführungen einem aus seiner Sicht oft verkannten demokratischen Grundprinzip, der Repräsentation. Dieses unverzichtbare Prinzip sei heute dadurch herausgefordert, dass Repräsentation immer öfter mit Repräsentativität verwechselt werde. Abgeordnete seien aber nicht nur Vertreter:innen bestimmter Regionen oder einzelner gesellschaftlicher Gruppen, sondern des ganzen Volkes, betonte der Festredner.

Die in immer kürzeren Intervallen seit Beginn des 21. Jahrhunderts auftretenden Krisen würden einen "Dauerkrisenmodus" erzeugen, wobei die vielleicht gefährlichste Krise die der rechtsstaatlichen Demokratie selbst sei. Allerdings seien Klagen über die Krise der Demokratie und des Parlamentarismus nicht neu, sondern so alt wie die Demokratie selbst. Der britische Politologe David Runciman komme deshalb sogar zu dem Schluss: "Demokratie ist Krise."

Krisen könnten aber auch Instrumente beständiger, notwendiger Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen sein, betonte Schäuble. Es gelte daher, im Sinne Karl Poppers den Fokus stärker auf die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der Demokratie zu richten. Derzeit sei allerdings zu bemerken, dass sich Zweifel und Unbehagen am Funktionieren des westlichen demokratischen Systems mehren. Der Verlust des Vertrauens in die demokratischen Institutionen verhelfe "populistischen Vereinfachern" in Parlamente und Regierungen oder führe dazu, dass Bürger:innen sich ganz vom öffentlichen Gemeinwesen abwenden.

Diese Entwicklung rührt laut Schäuble an den Kern der Demokratie, an das Prinzip der Repräsentation, das wesentlich für den historischen Erfolg der modernen Demokratie sei. Allerdings gebe es keine einfache Antwort auf die Frage, wie es gelingen könne, das Prinzip der Repräsentation zu behaupten. Während die Konflikte im Zunehmen begriffen seien, seien die Integrationskräfte von Parteien und Parlamenten im Schwinden, konstatierte Schäuble.

Algorithmen verstärken das Gegeneinander anstelle des Gemeinsamen

Als einen wesentlichen Faktor machte Schäuble die digitale Kommunikation im vernetzten Raum aus. Mit dem Internet und sozialen Netzwerken, die neue Formen der Teilhabe ermöglichen, habe sich einst die Hoffnung verbunden, dass sie das politische Gleichheitsversprechen der Demokratie einlösen und als eine "gigantische Demokratisierungsmaschine" wirken würden.

Mehr Chancen der Teilhabe würden aber nicht automatisch mehr Partizipation und auch nicht zwangsläufig mehr Akzeptanz für die am Ende getroffenen Entscheidungen bedeuten, meinte Schäuble. Vielmehr sei festzustellen, dass das Internet und soziale Medien das Prinzip Repräsentation herausfordern würden. "Die algorithmengesteuerte Aufmerksamkeitsökonomie zementiert Teilöffentlichkeiten, die nicht mehr zum Diskurs über das Gemeinsame zusammenfinden", konstatierte Schäuble.

Daher gelte heute die Formel von Niklas Luhmann: "Was wir über die Gesellschaft wissen, wissen wir durch Massenmedien" nicht mehr oder nur mehr teilweise. Vielmehr gelte: "Fast alle sagen jetzt fast alles im Netz. Und wie es scheint – vorzugsweise nebeneinander, aneinander vorbei oder gegeneinander", hielt Schäuble fest. Der gemeinsam geteilte Erfahrungs- und Diskursraum schwinde. "Wir verlieren die Gewohnheit, uns im kollektiven Gespräch über die wichtigen Fragen zu verständigen. Aber genau darauf ist die Demokratie angewiesen – besonders in dieser vielfältiger werdenden Gesellschaft", so der Festredner.

Die Möglichkeit, über das Netz ad hoc politisch zu mobilisieren und kollektives Handeln von vielen Einzelnen zu organisieren, sei ein wesentlicher Faktor für den Erfolg von so unterschiedlichen Bewegungen wie Fridays for Future oder die Querdenker. Klassische vermittelnde Instanzen der repräsentativen Demokratie – Parteien, Parlamente, aber auch Gewerkschaften, Kirchen, Vereine – würden in den Hintergrund treten. Zugleich erhöhe die "Partizipation ohne Repräsentation" aber den Druck auf die demokratischen Institutionen. Die gestiegenen Partizipationserwartungen würden nicht nur mit den Verfahren der Willensbildung und Entscheidungsfindung in der parlamentarischen Demokratie kollidieren. Die "Demokratisierung der Demokratie" führe auch fast unweigerlich zu Enttäuschungen und gefährde auf lange Sicht die Legitimation gewählter Abgeordneter, für alle verbindlich mit Mehrheit zu entscheiden.

Während das Vertrauen in Abgeordnete schwinde, finde die Idee einer Gesetzgebung über Volksentscheide oder basierend auf politischen Entscheidungen von unabhängigen Fachleuten immer mehr Zuspruch. Der israelische Historiker Yuval Harari diagnostiziere einen drohenden Kontrollverlust der Politik, weil sie mit der Beschleunigung technologischer Prozesse nicht Schritt halten könne. Diesen Befund gelte es sehr ernst zu nehmen, sagte Schäuble, auch wenn er nicht glaube, dass alle digitalen Phantasien Wirklichkeit werden, ob als schöne Vision oder drohende Gefahr.

Das Prinzip der Repräsentation leiste nämlich weiterhin etwas, das auf keinem anderen Wege ausreichend gut gelinge, argumentierte Schäuble. Es stelle sicher, dass nicht nur die Vertretung mobilisierbarer Interessen, sondern auch der Ausgleich widerstreitender Interessen erfolge. Deshalb gelte es, dafür zu sorgen, dass das repräsentative Prinzip funktioniere, Bürgerinnen und Bürger sich besser vertreten fühlen und sich im demokratischen Prozess wiederfinden. Diese Aufgabe sieht Schäuble zuallererst bei den zentralen Repräsentationsinstanzen, bei Parteien und Parlamenten.

Demokratie muss offen bleiben für gegensätzliche Ansichten

Um das Vertrauen in die demokratischen Prozesse zu stärken, braucht es laut Schäuble eine Kultur des Zuhörens und die Bereitschaft, nicht von vornherein auszuschließen, dass der Andere auch Recht haben könnte. Zudem gelte es, die "Anderen", die kein Interesse mehr an demokratischen Diskursen haben, überhaupt zu erreichen und sie in eine gemeinsame demokratische Öffentlichkeit zurückzuholen.

In der Debatte über die Pandemie habe erlebt werden können, wie wenig Raum für eine differenzierte Haltung, für das Anhören der anderen Meinung geblieben sei. Die moralische Integrität des Gegenübers anzuzweifeln statt seiner Argumentation zu widersprechen, sei zwar bequem, könne aber nicht das politische Argument und die notwendige Auseinandersetzung ersetzen. Denn "nicht jeder, der die Pandemiemaßnahmen hinterfragt, ist ein Verschwörungstheoretiker, nicht jeder, der sich wegen der Aufnahme von Flüchtlingen sorgt, ein inhumaner Fremdenfeind und nicht jeder, der die europäischen Klimaziele anzweifelt, ein sogenannter Klimaleugner", meinte Schäuble. Es sei darauf zu achten, "legitime Positionen nicht aus dem Diskurs zu drängen, "auch nicht unter Geltendmachung von Moral oder Identitäten".

So entschieden sich die parlamentarische Demokratie gegen jegliche Angriffe auf ihre Regeln und Verfahren wehren müsse, so offen müsse sie für gegensätzliche Ansichten bleiben, betonte Schäuble. Die Demokratie brauche ein maximales Maß an Duldsamkeit gegenüber anderen Meinungen, solange diese nicht den grundlegenden Werten widersprechen.

Politik lasse sich nicht durch Moral ersetzen und auch nicht durch Wissenschaft, denn "Fakten allein ergeben noch keine Politik", sagte Schäuble. Welche Lösung vernünftiger sei als eine andere, ergebe sich nicht allein aus Fakten, sondern auch aus Bewertungen. "Legitimität erzielt die Demokratie nur durch beides: sachgerechte Lösungen und ihr verfassungsrechtlich gesichertes Verfahren der Mehrheitsentscheidung", betonte Schäuble.

Zur freiheitlichen Demokratie gebe es keine bessere Alternative. Sie gelte allerdings nicht mehr unhinterfragt als das bessere Modell. Die Demokratie müsse sich beweisen, nicht zuletzt im Wettstreit mit autoritären Staats- und Gesellschaftsmodellen, die mit einem Effizienzversprechen für sich werben, ohne auf Freiheit und Menschenrechte, auf rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien Rücksicht zu nehmen. Hier bestehe eine Verantwortung, nicht nur für die eigene demokratische Gesellschaft, sondern auch für die, die nicht das Glück haben, ihre Vorzüge zu genießen.

Parlamentarismus muss bewusst die "großen, strittigen Debatten suchen"

Das Prinzip der Repräsentation zu stärken erfordert für Schäuble, sich "immer wieder um die Faszination der großen, strittigen Debatte bemühen". Das Parlament müsse dabei der Raum sein, in dem die Vielfalt an Meinungen offen zur Sprache komme. Schäuble plädierte daher dafür, "den Streit in der Mitte der Gesellschaft" zu suchen und ihn öffentlich in den Parlamenten auszutragen. Dabei gelte es, deutlich zu machen, dass um der Sache willen miteinander gerungen werde und Politik kein Selbstzweck sei. Abgeordnete würden nicht dem Eigeninteresse einer gesellschaftlichen Gruppe oder Meinungsblase dienen, sondern der Gemeinschaft. Nochmals betonte Schäuble, dass daher die Repräsentation nicht mit der Repräsentativität verwechselt werden dürfe.

Die Demokratie verlange von den Abgeordneten den Blick auf die wirklich großen Aufgaben und die Fähigkeit, das gesellschaftliche Interesse darauf zu lenken und Orientierung zu geben. Das bedeute auch, den Menschen etwas zuzumuten und "nicht nur Antworten zu geben, die gern gehört werden, sondern Lösungen zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen". Politik sei immer ein schwieriger Abwägungsprozess, ein Austarieren widerstreitender Interessen.

"Wir müssen als Parlamentarier stets neu beweisen, die großen Herausforderungen unserer Zeit im Rahmen der Rechtstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie bewältigen zu können", mahnte Schäuble. In diesem Sinne wünsche er dem österreichischen Parlamentarismus "viele glanzvolle Debatten unter der neuen gläsernen Kuppel, im Respekt voreinander und in der Offenheit füreinander und im Bewusstsein der Verantwortung für das Gemeinwohl". Schäuble schloss seine Rede mit den Worten von Karl Popper: "Wir sind jetzt verantwortlich für das, was in der Zukunft geschieht." (Fortsetzung Festakt) sox

HINWEIS: Der Festakt kann als Livestream und als Video-on-Demand in der Mediathek des Parlaments abgerufen werden. Fotos vom Festakt finden Sie im Webportal des Parlaments.

Weitere Informationen, Fotos und Videos zum Parlament und seiner Sanierung gibt es in einer multimedialen Pressemappe sowie unter www.oeparl2023.at.