Parlamentskorrespondenz Nr. 126 vom 09.02.2023

Arbeitsbelastung des Verfassungsgerichtshofs blieb auch 2021 hoch

Mehr als 5.000 neue Verfahren, Anteil der Stattgaben stieg auf 10,3 %

Wien (PK) – Die Arbeitsbelastung des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) war auch im zweiten Pandemiejahr 2021 hoch. Zwar ging die Zahl der neu anhängigen Verfahren gegenüber 2020 leicht zurück, nach wie vor wurden aber deutlich mehr als 5.000 Fälle an das Höchstgericht herangetragen. Das geht aus dem von Verfassungsministerin Karoline Edtstadler im Jänner vorgelegten Tätigkeitsbericht 2021 des Höchstgerichts hervor (III-848 d.B.). Spitzenreiter blieben mit 2.491 Fällen Asylbeschwerden, aber auch die an den VfGH herangetragenen Meinungsverschiedenheiten aus dem Ibiza-Untersuchungsausschuss stellten eine besondere Herausforderung dar, wie die VfGH-Spitze im Vorwort des Berichts schreibt. In Zusammenhang mit der Bekämpfung der Corona-Pandemie wurden weitere Leitentscheidungen getroffen. Die durchschnittliche Verfahrensdauer konnte trotz der Herausforderungen mit 134 Tagen ohne Asylentscheidungen bzw. 118 Tagen inklusive Asylrechtssachen im internationalen Vergleich kurz gehalten werden.

Konkret wurden im Jahr 2021 5.332 neue Fälle an den Verfassungsgerichtshof herangetragen. Annähernd gleich viele Fälle – nämlich 5.253 – konnte das Höchstgericht abschließen. Dazu zählen neben 4.541 Individualbeschwerden gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen auch 354 Gesetzesprüfungen, 304 Verordnungsprüfungen und fünf Prüfungen von Staatsverträgen. Dazu kommen neun Verfahren in Wahlsachen, 23 Klagen in Zusammenhang mit vermögensrechtlichen Ansprüchen gegen eine Gebietskörperschaft, sechs Fälle von Kompetenzkonflikten und vier sonstige Sachfragen. In seiner Rolle als Streitschlichter in U-Ausschuss-Angelegenheiten hat der VfGH sieben Entscheidungen getroffen. Insgesamt offen waren zum Jahresende noch 1.498 Verfahren, Ende 2020 waren es 1.419 gewesen.

Quote der Stattgaben stieg auf 10,3 %

Nach wie vor relativ gering ist die Chance, beim Verfassungsgerichtshof mit seinem Anliegen durchzudringen. Lediglich 540 der abgeschlossenen Verfahren bzw. 10,3 % endeten im Sinne der Beschwerdeführer:innen. Gegenüber 2020 (9,4 %) und 2019 (7,5 %) ist das jedoch ein leichtes Plus.

Den 540 Stattgaben stehen 1.703 Ablehnungen (32,4 %), 355 Zurückweisungen (6,8 %) und 171 Abweisungen (3,3 %) gegenüber. Dazu kommen 2.378 negative Entscheidungen über Verfahrenshilfeanträge (45,3 %) und 75 "sonstige Erledigungen" wie Verfahrenseinstellungen (1,5 %).

354 Gesetzesprüfungsverfahren

Von den 354 Gesetzesprüfungsverfahren mündeten 55 in eine Aufhebung der angefochtenen Bestimmungen, wobei 32 der betreffenden Verfahren vom VfGH selbst in die Wege geleitet wurden und 23 auf Anträgen von Gerichten basierten. Einschlägige Individualbeschwerden und sogenannte Parteianträge von gerichtlichen Verfahrensparteien führten demgegenüber in keinem einzigen Fall zum Erfolg. Auch Gesetzesanfechtungen der Opposition blieben im Berichtszeitraum erfolglos. Nicht aufgeschlüsselt ist im Bericht, wie viele Gesetzesmaterien von den 354 Prüfverfahren betroffen waren, einzelne Bestimmungen werden oft mehrfach angefochten.

Einrichtung der COFAG war zulässig

Konkret hat der VfGH etwa einen gemeinsamen Antrag von SPÖ, FPÖ und NEOS in Bezug auf die Einrichtung der COVID-19-Finanzierungsagentur (COFAG) abgewiesen. Er teilte die von der Opposition vorgebrachten Bedenken gegen die Auslagerung von Fördervergaben in Milliardenhöhe an die Agentur nicht. Auch etliche mit der Corona-Pandemie in Zusammenhang stehende Schutzmaßnahmen wie nächtliche Ausgangssperren, die Schließung von Gastronomiebetrieben und Geschäften, die Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in Schulen trotz gleichzeitiger Tests, das Verbot von Kulturveranstaltungen, die Einführung einer vorübergehenden Testpflicht bei der Ausreise aus Tirol und die FFP2-Maskenpflicht in Seilbahnen hielten der Prüfung stand. Nicht nachvollziehbar waren für die Höchstrichter:innen hingegen verordnete Beschränkungen für Spielplätze und die unterschiedliche Behandlung von Schihütten in Sachen "Take away".

Abseits von COVID-19 bestätigte der VfGH unter anderem Bestimmungen im Finanzmarktaufsichtsbehördengesetz (FMBAG), im Kapitalmarktgesetz und im Grunderwerbssteuergesetz. So halten es die Höchstrichter:innen im Interesse der Steuerzahler:innen grundsätzlich für gerechtfertigt, dass etwaige Fehler der Bankenaufsicht keinen Amtshaftungsanspruch für An- und Einleger auslösen. Ebenso wenig verstoßen ihm zufolge Rücktrittsbestimmungen im Kapitalmarktgesetz zum Schutz von Verbraucher:innen und Anleger:innen gegen das Eigentumsrecht oder den Gleichheitsgrundsatz. Auch gegen die Heranziehung des Einheitswerts als Bemessungsgrundlage für die Berechnung der Grunderwerbsteuer im Falle der Übertragung land- und forstwirtschaftlicher Betriebe an nahe Angehörige im Erbfall hat das Höchstgericht keine Einwände. Ausdrücklich festgehalten wurde außerdem, dass die gemeinsame Adoption von Kindern durch Lebensgefährt:innen nach der geltenden Rechtslage nicht ausgeschlossen ist.

Aufhebung einzelner Bestimmungen im Privatschulgesetz und in anderen Gesetzen

Aufgehoben hat der Verfassungsgerichtshof hingegen u.a. einzelne Bestimmungen im Privatschulgesetz, im Ausländerbeschäftigungsgesetz, im Zivildienstgesetz, im Staatsbürgerschaftsgesetz und im Zahnärztekammergesetz. So bewertete er es etwa als verfassungswidrig, dass selbst geringfügige Übertretungen des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes ein Ausschlussgrund für die Verleihung der Staatsbürgerschaft sind und dass nicht alle internationalen Privatschulen in Bezug auf die vorgeschriebenen Deutschkennnisse von ausländischem Lehrpersonal gleichgestellt sind. Auch dass bestimmte Beschäftigungsbewilligungen nur im Falle der einhelligen Zustimmung regionaler Sozialpartner-Vertreter:innen erteilt werden dürfen, ist den Höchstrichter:innen ein Dorn im Auge. Viele der aufgehobenen Gesetzesbestimmungen wurden mittlerweile repariert.

In Zusammenhang mit dem Recht auf Meinungsfreiheit urteilte der VfGH unter anderem, dass in Bezug auf Gehaltsfortzahlungen für aus dem Nationalrat ausgeschiedene Abgeordnete das Interesse der Öffentlichkeit an diesbezüglichen Informationen Vorrang vor etwaigen Geheimhaltungsinteressen hat. Die Abweisung eines entsprechenden Auskunftsbegehrens stand demnach im Widerspruch zu verfassungsgesetzlich gewährleisteten Informationsrechten. Auch die Bestrafung einer als Kuh verkleideten Person, die bei einer für die Milchwirtschaft werbenden Veranstaltung Flugblätter verteilt hat, um auf Tierleid in der Milchproduktion aufmerksam zu machen, war nach Meinung der Höchstrichter:innen unzulässig. Begründet worden war die Verwaltungsstrafe mit dem Verhüllungsverbot – laut VfGH fällt das Einsetzen von Stilmitteln wie Tiermasken im Rahmen derartiger Protestaktionen aber unter die im Gesetz verankerten Ausnahmetatbestände.

Entscheidungen in Zusammenhang mit dem Ibiza-Untersuchungsausschuss

Was die Rolle des VfGH als Streitschlichtungsorgan für Meinungsverschiedenheiten in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen betrifft, sticht 2021 seine Reaktion auf säumige Aktenlieferungen des Finanzministeriums hervor. Der Gerichtshof stellte bei Bundespräsident Alexander Van der Bellen den Antrag, das zuvor ergangene Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs zu exekutieren. Auch in Zusammenhang mit der Vorlage von Akten und Unterlagen der im Bundeskanzleramt eingerichteten Stabstelle "Think Austria", der Übermittlung von Chat-Protokollen an den Ibiza-Untersuchungsausschuss und der Frage der Persönlichkeitsrechte von Auskunftspersonen traf er Entscheidungen.

265 erfolgreiche Asylbeschwerden

Im Zuge der 2.470 abgeschlossenen Asylrechtsverfahren hat der Verfassungsgerichtshof in 265 Fällen – zumindest teilweise – zugunsten der Beschwerdeführer:innen entschieden. Damit lag die Stattgabenquote (rund 10,7 %) auf ähnlichem Niveau wie bei den übrigen Rechtsfällen. Nach wie vor gehen fast die Hälfte der beim VfGH anhängigen Verfahren auf Asylbeschwerden zurück. Der Anteil am Neuanfall lag 2021 mit 47 % aber etwas niedriger als in den Vorjahren (2020: 49 %, 2019 62 %). Unter anderem hatte sich der Verfassungsgerichtshof im Berichtszeitraum mit der geänderten Situation in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban, der prekären Lage für Flüchtlinge in Griechenland und – aus Anlass eines Asylantrags eines litauischen Staatsbürgers – mit dem Umgang Österreichs mit schutzsuchenden Personen aus anderen EU-Ländern auseinanderzusetzen.

Auskunft gibt der Tätigkeitsbericht 2021 weiters über die personelle Struktur des Verfassungsgerichtshofs, Veranstaltungen, internationale Kontakte und eine Wanderausstellung, mit der der VfGH 2021 – pandemiebedingt um ein Jahr verzögert – durch die Bundesländer tourte. Außerdem wird auf zwei Seiten ausführlich dargestellt, wer unter welchen Voraussetzungen Verfahrenshilfe für Individualbeschwerden bzw. Gesetzes- oder Verordnungsprüfungsanträge beim VfGH beantragen kann. Laut Bericht gab es 2021 rund 2.700 derartiger Anträge (die meisten in Asylsachen), wobei nur 12 % davon bewilligt wurden. 80 % wurden mangels Erfolgsaussichten abgewiesen. Auch ein Interview mit dem ehemaligen VfGH-Präsidenten Ludwig Adamovich ist Teil des Berichts. (Schluss) gs