Parlamentskorrespondenz Nr. 484 vom 05.05.2023

Podiumsdiskussion zur Erinnerungskultur: Gedenken als Frage des Dialogs und der Glaubwürdigkeit

Gedenkveranstaltung und Diskussion im Parlament anlässlich des Jahrestags der Befreiung des KZ Mauthausen

Wien (PK) — Die Zukunft des Gedenkens und der Weiterentwicklung der Erinnerungskultur standen im Mittelpunkt der heurigen Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im Parlament. Eine Podiumsdiskussion griff diese Thematik am Beispiel des KZ Gusen auf. Derzeit läuft ein Beteiligungsprozess zur Neugestaltung der Gedenkstätte für die Opfer dieses größten Nebenlagers des KZ Mauthausen. An der Diskussion beteiligten sich die Direktorin der KZ-Gedenkstätte Mauthausen Barbara Glück, die Zeithistorikerin Linda Erker, der Leiter des Fotoarchivs von Yad Vashem Jonathan Matthews sowie der deutsch-französische Jurist und Philosoph Michel Friedman. In den Diskussionsbeiträgen kam zum Ausdruck, dass das Gedenken nicht nur Sache der Opfer oder ihrer Nachkommen sein kann, sondern auch die Nachkommen der Täter:innen einbeziehen muss.

Gegen das Vergessen: Beteiligungsprozess zur Gestaltung der Gedenkstätte KZ Gusen

Der Kurzfilm "Gusen weiterdenken" zeigt beispielhaft den Umgang mit der Erinnerung an die Verbrechen des NS-Regimes. Das KZ Gusen umfasste drei unterschiedliche Häftlingslager in Oberösterreich, die von der SS als Außenlager des KZ Mauthausen geführt wurden. Am 5. Mai 1945 wurden die Lager von US-Soldaten befreit. Von den rund 71.000 Häftlingen, die aus ganz Europa in das Lagersystem verschleppt wurden, wurden von Dezember 1945 bis Mai 1945 etwa 36.000 durch die grausamen Lebensbedingungen und die schwere Arbeit in den Steinbrüchen und der Rüstungsindustrie getötet. Aufgrund seiner Größe, der Anzahl der Häftlinge und vor allem der Todesrate stellt Gusen einen Sonderfall im Lagersystem des KZ Mauthausen dar.

Das Gelände des ehemaligen Lagers wurde nach dem Krieg nicht Teil der Gedenkstätte Mauthausen, sondern teilweise weiterhin wirtschaftlich genutzt und später weitgehend verbaut. Damit verschwanden die Bauten des Lagers zum Großteil. Die Erinnerung an das KZ Gusen wurde vor allem von privaten Opferverbänden wachgehalten. Nach einem längeren Diskussionsprozess erwarb die Republik Österreich in den Jahren 2021 und 2022 Teile des Areals mit der Zusage, der langjährigen Forderung nach der Errichtung einer würdigen Gedenkstätte zu entsprechen. In der Entwicklung des Konzepts wird versucht, neue Wege in der Gedenkkultur zu gehen. Bewusst setzt man auf die Beteiligung der Bürger:innen und sucht den Dialog mit ihnen. In Österreich findet erstmals ein solcher Beteiligungsprozess zur Gestaltung einer Gedenkstätte statt.

Glück: Gedenken geht nur gemeinsam

Die Direktorin der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Barbara Glück, berichtete über die Herausforderungen des Beteiligungsprozesses in der Gedenkstätte Gusen. Der entscheidende Punkt sei, dahin zu kommen, dass Menschen aufeinander zugehen und miteinander über ihre Vorstellungen, Erwartungen, aber auch über ihre Vorbehalte in Hinblick auf die geplante neue Gedenkstätte und das künftige Gedenken zu reden. Diesen Austausch in Gang zu bringen, sei das Schwierigste gewesen. Im Laufe des Dialogs sei jedoch eine gute Gesprächsbasis entstanden, von der sie hoffe, dass sie bewahrt werden könne.

Das Gedenken sei immer eine eminent gesellschaftspolitische Frage. Das gelte auch besonders für den Beteiligungsprozess, der in Gusen gestartet worden sei. Für Glück zeigt sich ein Erfolg des Beteiligungsprozesses bereits darin, dass Menschen in der Region um Gusen sich freiwillig mit der Vergangenheit ihrer Heimat und mit der Frage der Menschenrechte auseinandersetzen. Die Vermittlungsarbeit müsse sich besonders auch an die jüngere Generation richten. Was die Zukunft der Gedenkkultur angeht, ist Glück überzeugt: "Gedenken geht nur gemeinsam".

Erker: Gedenken muss auch dort hingehen, "wo es weh tut"

An Gusen lasse sich paradigmatisch die Geschichte der österreichischen Auseinandersetzung mit dem NS-Regime zeigen, meinte die Zeithistorikerin Linda Erker. Lange seien in Österreich die gefallenen Wehrmachtssoldaten im Mittelpunkt des Gedenkens gestanden. In Gusen hätten die Opfer selbst dafür sorgen müssen, dass ihre Leiden nicht vergessen werden und eine Gedenkstätte bewahrt wird. Vor allem italienische und polnische ehemalige Häftlinge hätten sich dafür eingesetzt, dass die Geschichte von Gusen nicht vergessen wird. Lange habe man die Frage des gemeinsamen Gedenkens an die Opfergemeinschaften ausgelagert. Die Republik Österreich habe ihre Verantwortung für das Gedenken erst sehr spät übernommen. Spreche man über die Opfer, dann müsse man auch über die Täter:innen sprechen, die sie erst zu Opfern gemacht hätten, sagte Erker. Ohne diese Auseinandersetzung laufe das Gedenken Gefahr, nur "inhaltsleere Performance" zu werden. Sie messe der Jugendbegegnung in der Vermittlung große Bedeutung bei. Sinnvolle Gedenken bedeute für sie: "Man muss auch dort hingehen, wo es weh tut".

Friedman: "Habe lange überlegt, ob ich die Einladung annehmen soll"

Er habe lange überlegt, ob er die Einladung ins österreichische Parlament annehmen solle, sagte der Philosoph Michel Friedman. Dafür gesprochen habe, dass es Millionen Österreicher:innen, vor allem der jüngeren Generation, gebe, die sich der Geschichte stellen und für die Demokratie engagieren. Allerdings gebe es auch eine andere Seite. George Tabori habe einmal mit dem Satz "Jeder ist jemand" ein sehr wichtiges Prinzip kurz zusammengefasst, den Respekt vor der Würde jedes Menschen. Im österreichischen Parlament gebe es jedoch auch Vertreter:innen einer Partei, die anderen Menschen diesen Respekt nicht gewähren würden. Trotzdem sei diese Partei bereits zweimal in die Regierungsverantwortung geholt worden. Für ihn stehe die moralische Glaubwürdigkeit der Politik und des Hohen Hauses auf dem Spiel, wenn Wahlkämpfe mit Hass und rassistischen Narrativen arbeiten würden und darauf angelegt seien, Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Diese politische Realität treffe den Kern der Erinnerungskultur, betonte Friedman. Er erwarte sich, dass "dieses Haus glaubwürdiger wird".

Natürlich gebe es einen Prozess der Erinnerungskultur, denn er begrüße und unterstützen wolle, hielt Friedman fest. Zentral sei dafür die Weitergabe der Erinnerung zwischen den Generationen. Diese Weitergabe habe nicht immer richtig funktioniert bzw. fragwürdige Narrative erzeugt. Jetzt habe aber die vierte Generation die Möglichkeit, einen Neuanfang zu machen. Was die Zeitzeug:innen angehe, solle nicht vergessen werden, dass es neben den Opfern auch Millionen Zeug:innen der Verbrechen und Mittäter:innen gegeben habe. Wolle man verstehen, wie es überhaupt zum Holocaust kommen konnte, müsse man sich mit den vielen kleinen Verbrechen auseinandersetzen, die das große Verbrechen erst möglich gemacht hätten. Die Arbeit von Yad Vashem sei vor allem auch deshalb besonders wichtig und verdienstvoll, weil sie den Opfern ihre Biographie zurückgebe.

Matthews: Wichtig, sich der Opfer als Menschen mit persönlichen Biographien zu erinnern

Als Leiter des Fotoarchivs von Yad Vashem sei er in seiner Arbeit ständig mit der Realität des Generationenwechsels konfrontiert, berichtete Jonathan Matthews. Die Arbeit des Museums konzentriere sich neben der Dokumentation der Verbrechen des NS-Regimes an der jüdischen Bevölkerung Europas zunehmend auf die Dokumentation des Alltags vor dem Holocaust. Dabei spiele die Fotosammlung von Yad Vashem eine große Rolle. Sie sei sehr umfangreich und wachse durch Nachlässe immer weiter an. Die Bearbeitung des Materials werde aufgrund des Fehlens der Zeitzeug:innen, die Personen auf Fotografien identifizieren könnten, immer schwieriger.

Zunehmend wichtiger werde auch die Arbeit mit den Nachkommen der Tätergeneration. Hier biete die Gedenkstätte Yad Vashem eine Annäherung an die Opfer nicht nur als Nummern, sondern als reale Menschen, zeige sie als Familien und Individuen mit einer persönlichen Geschichte. Grundsätzlich gebe es keine Konkurrenz der Gedenkstätten darüber, "wer es richtig macht". Für die Zukunft der Gedenkkultur gelte aus seiner Sicht, vor neuen Technologien keine Angst zu haben und sie einzusetzen.

Lesung aus Biographien von Opfern des KZ Gusen

Einen berührenden und erschütternden Einblick in die Realität des NS-Lagersystems gaben die Lebensgeschichten von drei Opfern des NS-Regime, die im KZ Gusen zu Tode kamen. Ihre Biographien wurden von drei jungen Gedenkvermittler:innen vorgetragen.

Der am 11. Oktober 1900 in Baden-Württemberg geborene Johann Reinhardt gehörte der Minderheit der Sinti an. Schon lange bevor die Nationalsozialisten die politische Macht innehatten, begegnete die Mehrheitsgesellschaft den Sinti mit Misstrauen und vielerlei Vorurteilen. Sie wurden von den Polizeibehörden schikaniert und in einer "Zigeunerdatei" erfasst. Laut nationalsozialistischer Rassenideologie waren die Sinti eine "fremdrassige" Minderheit und galten als "geborene Asoziale". Im Juni 1938 wurden Reinhardt und sein Vater im Zuge der reichsweiten Verhaftungsaktion mit der Bezeichnung "Arbeitsscheu Reich" festgenommen und deportiert. Nach einer mehrjährigen Odyssee durch verschiedene Konzentrationslager starb Johann Reinhardt schließlich am 2. Februar 1942 im Alter von 42 Jahren im KZ Gusen an den Folgen der jahrelangen systematischen Unterernährung und harten Arbeit. Ebenso ermordet wurden seine Frau Emma Reinhardt sowie sechs ihrer Brüder, eine Schwester sowie drei kleine Nichten und Neffen.

Der polnische Geograf und Universitätsprofessor Wiktor Ormicki, geboren am 1. Februar 1898 in Krakau, wurde bereits im November 1939 im Rahmen der sogenannten "Sonderaktion Krakau" festgenommen. Diese verfolgte das Ziel, die polnische Intelligenz nach der deutschen Eroberung Polens zu vernichten. Er und seine Professorenkolleg:innen wurden zunächst in das KZ Sachsenhausen verschleppt, im März 1940 wurde Ormicki in das KZ Gusen verlegt. Bis zum letzten Atemzug widmete er sich der wissenschaftlichen Arbeit und der Verbreitung von geografischem Wissen unter den Mitgefangenen. Zu seinen geheimen Vorträgen, die er trotz Androhung der Todesstrafe abhielt, versammelten sich bis zu 200 Häftlinge. Er schrieb sogar zwei Abhandlungen während seines Aufenthalts in Gusen, die sich mit Besiedelungsfragen und der Versorgung der Bevölkerung mit Wasser befassten. Bis heute gilt er als einer der bedeutendsten polnischen Geografen seiner Zeit. Am 16. September 1941 erhielten die Lagerfunktionäre den Befehl, binnen 24 Stunden acht Juden zu ermorden. Einer von ihnen war Wiktor Ormicki.

Der am 16. Jänner 1890 geborene polnische Staatsbürger Jan Topolewski wurde 1944 in Folge des Warschauer Aufstandes gemeinsam mit anderen Überlebenden aus den Häusern getrieben, in Viehwaggons gesteckt und gemeinsam mit seinem Vater in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert. In einem Waggon mit kleinen vergitterten Fenstern traten sie die mehrtägige Weiterfahrt nach Mauthausen an, wobei sie weder Nahrung noch Essen erhielten. Dort angekommen wurden sie zur Arbeit im Steinbruch mit der berüchtigten Todesstiege eingeteilt. Anfangs konnte ihn sein Vater noch schützen, da Topolewski nicht genug Kraft hatte, die Steine in der vorgeschriebenen Größe zu tragen. Sein Vater hielt die Arbeit aus gesundheitlichen Gründen jedoch nicht mehr aus und musste sich im Krankenrevier melden. Bei einer letzten Begegnung konnten sie sich noch voneinander verabschieden. Topolewski verstarb schließlich im Mai 1945 im KZ Gusen. Seine Mutter wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet.

Die Biographien wurden von Verwandten oder Wissenschaftler:innen für den "(virtuellen) Raum der Namen" aufgezeichnet.

Am Schluss der Gedenkveranstaltung ergriff einer der letzten Überlebenden des KZ Gusen, Stanisław Zalewski, das Wort. Er erinnerte an die Aufschrift an der Gedenkstätte: "Wir leben so lange, so lange die leben, die sich an uns erinnern". Sein Wunsch sei: "Der Mensch soll dem anderen Menschen ein Mensch sein". (Schluss) sox/sue

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie im Webportal des Parlaments. Die Gedenkveranstaltung wurde live von ORF 2 übertragen und ist auch in der Mediathek des Parlaments abrufbar.