Parlamentskorrespondenz Nr. 495 vom 09.05.2023

Buchpräsentation: Die "Herzenssache" Südtirol im Spiegel des parlamentarischen Geschehens

Podiumsdiskussion mit den Südtirol-Sprecher:innen der Parlamentsklubs

Wien (PK) – "Eines aber ist für uns kein Politikum, sondern eine Herzenssache, und das ist Südtirol." So betonte Leopold Figl in seiner ersten Rede als Bundeskanzler am 21. Dezember 1945 die Bedeutung der Autonomen Provinz für die junge Republik. Laut stenographischem Protokoll wurde dies mit "stürmischem, langanhaltenden Beifall und Händeklatschen im Hause und auf den Galerien" quittiert. Bis 2020 fand die Südtirol-Frage Erwähnung in 481 Sitzungen und 1.320 parlamentarischen Äußerungen.

Auf Einladung von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka präsentierte der Historiker Hubert Speckner gestern im Parlament unter dem Titel "Herzenssache Südtirol" ein Kompendium dieser Äußerungen, das unter anderem Wortmeldungen, Berichte, Anfragen und Beantwortungen, Petitionen sowie Anträge enthält. Der Präsentation vorangestellt wurden Eröffnungsworte von Parlamentsvizedirektor Alexis Wintoniak und eine Begrüßung durch Franz Pahl, ehemaliger Regionalratspräsident von Trentino/Südtirol. Im Anschluss tauschte sich Speckner mit den Südtirol-Sprecher:innen der Parlamentsklubs Hermann Gahr (ÖVP), Selma Yildirim (SPÖ), Peter Wurm (FPÖ), Hermann Weratschnig (Grüne) und Helmut Brandstätter (NEOS) im Rahmen einer Podiumsdiskussion aus. Zu Gast waren auch der Regionalratspräsident Südtirols, Josef Noggler und Peter Jankowitsch, österreichischer Außenminister a. D..

Wintoniak, Pahl und Speckner über die generationenübergreifende Bedeutung der Südtirol-Thematik

Beeindruckt von der über 3.000 Seiten und über sieben Jahrzehnte umfassenden Publikation zeigte sich Parlamentsvizedirektor Alexis Wintoniak in seinen Eröffnungsworten. Sie demonstriere, dass über all die Jahre und über alle Parteigrenzen hinweg Südtirol tatsächlich eine "Herzensangelegenheit" darstellte und immer noch darstelle.

Dieser Konsens habe sich bereits bei der Gründung der Republik gebildet und sei seither ein fester Bestandteil politischen Denkens in Österreich, erklärte Franz Pahl, Regionalpräsident von Trentino/Südtirol a. D.. Werke, wie jenes von Hubert Speckner, ermöglichten die fortlaufende Beschäftigung mit der Thematik, ohne die eine "innerliche Verabschiedung" Österreichs von Südtirol drohe, dessen Status nach wie vor eine "nicht definitiv gelöste Frage" darstelle. Pahl äußerte seine Sorge darüber, dass sich kommende Generationen nicht mit der gleichen Verve für die Autonomie der Provinz einsetzen könnten und betonte, dass es immer wieder auf Einzelpersonen ankomme, das Thema in den Mittelpunkt des politischen Diskurses zu stellen. Er plädierte für die Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft für alle Südtiroler:innen, da dies einen grenzüberschreitenden politischen Schulterschluss im Sinne der Menschenrechte erleichtern würde. Südtirol könne beispielgebend wirken, da das Schicksal Europas auch vom Schicksal seiner Minderheiten abhänge.

Historiker, Oberst a.D. des höheren militärfachlichen Dienstes und Autor des Kompendiums, Hubert Speckner berichtete von der Genese seines Werkes, dessen Gegenstand in der zeithistorischen Forschung bisher "zu kurz gekommen" sei. "Parlamentarische Äußerungen", wie Speckner alle von ihm auf der Website des Parlaments gesammelten Dokumente zusammenfassend nennt, seien noch nicht eingehend hinsichtlich der Südtirol-Thematik untersucht worden. Deren Lektüre, die er während der COVID-19-Pandemie begann, habe ihn schließlich "gefesselt", da die parlamentarische Auseinandersetzung mit Südtirol nicht, wie vorher angenommen, in der 1970er-Jahren geendet habe, sondern bis heute andauere. Der parteiübergreifende Charakter des Einsatzes für Südtirol wird auch durch die Gestaltung des Kompendiums illustriert. Auf jeden der vier Bände findet sich jeweils jener Mandatar abgebildet, der in der betreffenden Periode die meisten parlamentarischen Äußerungen zur Thematik lieferte: Von 1945 bis 1966 war dies Franz Gschnitzer (ÖVP), von 1966 bis 1979 Bruno Kreisky (SPÖ), von 1979 bis 1996 Felix Ermacora (ÖVP) und von 1996 bis 2020 Werner Neubauer (FPÖ).

Podiumsdiskussion: Überparteiliche Einigkeit über Schutzfunktion Österreichs

Hubert Speckners Frage nach dem Stellenwert Südtirols im aktuellen politischen Diskurs stieß bei den Südtirol-Sprecher:innen der Parlamentsklubs weitestgehend auf einen breiten Konsens. So zeigte sich ÖVP-Mandatar Hermann Gahr überzeugt, dass auch in einer globalisierten Welt regionale Fragen ihre Bedeutung nicht verlieren würden. In einem vereinigten Europa müssten ebenso die Minderheitenrechte in den Mittelpunkt gestellt und offene Fragen, wie jene der Zweisprachigkeit von Behörden oder der Anerkennung von Studienabschlüssen, geklärt werden. Speckners Kompendium könne beitragen, den notwendigen Einsatz dafür auch in die nächsten Generationen zu tragen.

"Keinen Funken an Zweifel" wollte Selma Yildirim (SPÖ) an der Bedeutung Südtirols für Österreich aufkommen lassen. Hinsichtlich des Minderheitenschutzes stelle es ein "weltweit einzigartiges Erfolgsmodell" dar. Im ständigen Austausch mit dessen Vertreter:innen habe Yildirim jedoch eine "berührende Erwartungshaltung" festgestellt, dass Österreich seine Schutzfunktion stärker wahrnehmen solle. Es gelte wachsam zu sein, was die Entwicklung der Minderheitenrechte in Italien betreffe, die Appelle der Südtiroler Vertreter:innen ernst zu nehmen und in Rom auf freundschaftlicher Basis Verständnis für deren Anliegen zu schaffen.

Die Geschichte werde von den Siegern geschrieben, erklärte FPÖ-Abgeordneter Peter Wurm. Abseits des Parlaments werde die Südtirol-Thematik eher "totgeschwiegen" und selbst in Tirol gebe es Schwierigkeiten, sie jüngeren Menschen näher zu bringen. Realpolitisch sei in den letzten Jahren dahingehend "faktisch nichts passiert". Kein einziger Antrag zur Südtirol-Frage habe eine parlamentarische Mehrheit erhalten. Wurms Position sei klar: das Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler:innen müsse realisiert und eine friedliche Vereinigung Tirols ermöglicht werden. Dafür benötige es ein gutes Verhältnis zu Italien aber auch den Willen der Südtiroler:innen selbst. Österreich könne dazu etwa mit der Ermöglichung der doppelten Staatsbürgerschaft einen Schritt in die richtige Richtung setzen, sagte Wurm.

Hermann Weratschnig (Grüne) wies auf die Grenzen der europäischen Zusammenarbeit hin, die sich etwa im Rahmen der COVID-19-Pandemie oder insbesondere mit Italien bei der Frage des Transitverkehrs zeigen würden. Die Schutzfunktion Österreichs für Südtirol müsse so ausgestaltet werden, dass die Minderheitenrechte ins Zentrum gestellt und Defizite etwa in Fragen der Autonomie und des Selbstbestimmungsrechts klar aufgezeigt werden. Diese Themen würden auch durch den Krieg in der Ukraine wieder an Relevanz gewinnen, so Weratschnig.

Letztere Parallele zog auch Helmut Brandstätter von den NEOS. Der Ukraine-Konflikt würde demonstrieren, dass Minderheitenfragen nicht kriegerisch gelöst werden könnten. Daher könne die Bedeutung der Europäischen Union auf einem Kontinent, der immer durch Krieg und Konflikte geprägt gewesen sei, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Gleichzeitig betonte Brandstätter, dass auch in diesem Rahmen die Schutzfunktion Österreichs für Südtirol nicht obsolet geworden sei, wie es hochrangige italienische Politiker:innen ihm gegenüber geäußert hätten. Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit seien keine Selbstverständlichkeit und müssten miteinander – und nicht gegeneinander – erhalten werden. (Schluss) wit

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie im Webportal des Parlaments.