Parlamentskorrespondenz Nr. 202 vom 04.03.2024

Landesverteidigungsbericht 2023: Verteidigungsfähigkeit Österreichs weiterhin unzureichend

Fokus auf Gewinnung und Ausbildung des Personals

Wien (PK) – Nachdem der gemäß Landesverteidigungs-Finanzierungsgesetz (LV-FinG) erstmals präsentierte Landesverteidigungsbericht für das Jahr 2022 der österreichischen Verteidigungsfähigkeit ein ernüchterndes Zeugnis ausstellte, liegt nun der darauf aufbauende Bericht für das Jahr 2023 vor (III-1043 d.B.). Dieser soll die Konsequenzen aus den "fundamental geänderten" sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in Europa und dessen Umfeld darstellen, die notwendigen Lehren aus dem Ukraine-Krieg sowie anderen bewaffneten Konflikten für die österreichische Landesverteidigung ziehen.

Vor dem Hintergrund eines sich weiter verschlechternden Bedrohungsbildes und noch nicht ausreichend wiederhergestellten Fähigkeiten des Bundesheeres, fällt auch der diesjährige Befund des Verteidigungsressorts (BMLV) eher kritisch aus. Trotz Budgeterhöhung sei das Heer durch die Dauer der Beschaffungsvorgänge und der Implementierung erforderlicher Fähigkeiten weiterhin "nur bedingt" zur Abwehr von sowohl konventionell als auch subkonventionell agierenden Gegnern in der Lage. Um diesen Zustand zu verbessern sei neben einer weiteren stabilen Budgetsteigerung für die Landesverteidigung, dem Aufbau von rasch einsetzbaren Reaktionskräften und der Sicherstellung eines ausreichenden Schutzes des Luftraums insbesondere der Gewinnung und Ausbildung des Personals höchste Priorität einzuräumen, wie im Bericht ausgeführt wird.   

Risikobild und Problemanalyse

Nahezu alle Trends deuteten in Richtung eines sich verschlechternden sicherheitspolitischen Umfelds, wird das Risikobild für Österreich beschrieben. Wesentliche Risiken stellten hybride Bedrohungen, verschärfte Konflikte im östlichen und südlichen "Krisenbogen" sowie Angriffe auf EU-Mitgliedstaaten dar, die aufgrund der EU-Beistandsverpflichtung einen Beitrag Österreichs erfordern würden. Strategische Vorwarnzeiten existierten angesichts permanenter hybrider Bedrohungen und multipler Krisenerscheinungen nicht mehr und im Cyber- und Informationsumfeld stünden strategische Einflussnahmen auf der Tagesordnung. Laut Bericht ergibt sich daraus ein Bedarf an rascher Reaktionsfähigkeit und aktiver Stabilisierung im Umfeld der EU. Angesichts national nicht bewältigbarer Herausforderungen bedürfe es zudem einer verstärkten Mitwirkung Österreichs an der Weiterentwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) und einer neu konzipierten Umfassenden Landesverteidigung.

Aufgrund des "rigorosen Sparkurses der letzten Jahre" sei das Bundeheer auch weiterhin nur bedingt zur Führung einer Schutzoperation (gegen einen überwiegend subkonventionell agierenden Gegner) befähigt, wird in der Problemanalyse ausgeführt. Durch die Dauer der Beschaffungsvorgänge und der Implementierung erforderlicher Fähigkeiten werde dieser Zustand trotz Budgeterhöhung noch mindestens bis 2032 andauern. Nur eine stabile Budgetsteigerung zumindest über die folgenden zehn Jahre würde eine Kompensation des Fähigkeitsverlusts der letzten Zehn Jahre ermöglichen und das Bundesheer auch zu einer nachhaltigen Abwehr konventioneller Angriffe (Abwehroperation) befähigen, attestiert der Bericht.

Neben der Sicherstellung erforderlicher Ausrüstung und Bewaffnung sei vor allem das fehlende Personal ein limitierender Faktor. Hohe Pensionierungszahlen, ein Mangel an einzuberufenden Grundwehrdienern sowie eine nicht ausreichende Attraktivität des Soldatenberufs erschwere die Personalgewinnung stetig. Daher seien Anpassungen im Dienst- und Besoldungsrecht dringend erforderlich. Schließlich verhinderten Assistenzaufgaben die Sicherstellung der erforderlichen Ausbildungs- und Übungszeiten in allen Waffengattungen, was in einer nur bedingten "Feldverwendungsfähigkeit" des Personals resultiere.

Österreich sei laut BMLV in der "glücklichen Lage", nicht dem internationalen Trend hin zu Berufs- und Freiwillegenarmeen gefolgt zu sein und könne auf den Prinzipien des Milizsystems aufbauen, welches sich besser für Einsätze im Rahmen der nationalen militärischen Landesverteidigung eigne. Allerdings bedürfe es auch neuer Anstrengungen zur Wiederbelebung des Milizsystems.

Künftige militärische Aufgabenerfüllung

Der Gefechtsraum eines Einsatzes zur militärischen Landesverteidigung umfasse potenziell das gesamte Staatsgebiet, weshalb das Bundesheer mit seinen 55.000 Soldat:innen eine hohe Beweglichkeit und Selbstständigkeit aufweisen müsse. Eine Schutzoperation mit diesem Mobilmachungsrahmen sei nur bedingt länger als sechs Monate durchführbar. Die Nutzung einer erhöhten Anzahl von unbemannten und automatisierten Systemen würde zu einer glaubwürdigen Abhaltewirkung beitragen. Wichtig sei die Fähigkeit, die Kräfte zentral zu führen und dezentral einzusetzen, heißt es im Bericht.

Komplexität, Unsicherheit sowie eine hohe Agilität und Anpassungsfähigkeit der Akteure seien die wesentlichen Merkmale des künftigen Gefechtsbilds. Technologische Entwicklungen, wie die Digitalisierung und künstliche Intelligenz sowie zusätzliche Dimensionen der Kriegsführung, wie der Weltraum, der Cyber-Raum bzw. das Informationsumfeld, machten es für das Bundesheer erforderlich, auf das moderne Niveau vergleichbarer europäischer Länder aufzuschließen, um im Einsatzfall erfolgreich  zu sein. Neuartige Bedrohungen aus der Luft - insbesondere durch verschiedenste Formen von Drohnen - könne das Bundesheer  derzeit weder mittels Fliegerabwehr noch durch die bodengebundene Luftabwehr wirksam erfassen oder bekämpfen, wie das BMLV ausführt.

Auch die Innovationsgeschwindigkeit von Technologien, insbesondere Energietechnologien, würde die Art und Weise verändern, wo, wie und mit wem operiert wird und welche Fähigkeiten und Ressourcen bereitgestellt werden müssten. Auf EU-Ebene bzw. innerhalb der NATO-Partnerschaft werde daher aktiv eine Energiewende und eine Standardisierung und Diversifizierung von Energiequellen für das Militär angestrebt, um die Abhängigkeiten von ziviler Infrastruktur und Energielieferungen von Drittstaaten zu reduzieren.

Militärstrategische Ableitungen

Damit das Bundesheer seine verfassungsmäßigen Aufgaben zum Schutz der österreichischen Bevölkerung und Souveränität erfüllen und auf neue Bedrohungen wirksam reagieren kann, werden im Landesverteidigungsbericht eine Reihe an Maßnahmen angeführt. Demnach sei die Weiterentwicklung der Umfassenden Landesverteidigung mit Schwergewicht auf den hybrid agierenden, vorwiegend subkonventionell angreifenden irregulären staatlichen Gegner bzw. nichtstaatlichen Angreifer auszurichten, wobei auch klimarelevante Sicherheitsrisiken laufend in die Beurteilungen miteinfließen sollen.

Bereits in Friedenszeiten müssten stehende Kommandostrukturen das Bundesheer befähigen, permanent führungsfähig zu sein und eine rasche Mobilmachung zu gewährleisten. Für die unmittelbare Reaktionsfähigkeit seien Reaktionskräfte aufzustellen und zur Verstärkung auch Milizelemente mit höherem Bereitschaftsgrad (Reaktionsmiliz) in diese zu integrieren. Durchsetzungsfähige infanteristische Kampftruppen, Aufklärungskräfte, entsprechende bodengebundene Luftabwehr und Spezialeinsatzkräfte sowie bei Bedarf mechanisierte Kräfte sollten deren Kern bilden und durch Luft-, Cyber- und Informationskräfte unterstützt werden. Dem ausreichenden Schutz des Luftraums komme aufgrund des modernen Kriegsbildes eine besondere Bedeutung zu, um den Bodentruppen ihre Operationen zu ermöglichen und den Schutz der Bevölkerung und kritischer Infrastruktur zu gewährleisten, wie das BMLV festhält.

Neue Fähigkeiten insbesondere in den Kernbereichen Mobilität der Einsatzkräfte, Schutz und Wirkung sowie Autarkie und Nachhaltigkeit müssten aufgebaut werden. Die Beschaffung und Implementierung von modernem Gerät habe zudem einen positiven Effekt bei der Personalgewinnung. Auch im Ausland müsse Österreich mit interoperablen, robusten militärischen Kräften einen Beitrag leisten können, wie es im Bericht heißt. Um den internationalen Anschluss nicht zu verlieren müsse außerdem die Domäne Weltraum in den Streitkräften implementiert werden.

Oberste Priorität sei laut BMLV dem Personal einzuräumen. Das Bundesheer müsse sich zu einem attraktiven Arbeitgeber entwickeln, um sowohl neues Personal zu werben als auch bestehendes zu halten. Anreize und Anpassungen im Dienst- und Besoldungsrecht seien dafür dringend erforderlich. Generell gelte es, im Rahmen der Umfassenden Landesverteidigung den Wehrwillen in der österreichischen Gesellschaft zu stärken, wodurch auch der Grundwehrdienst wieder als wertgeschätzter Beitrag an der Gesellschaft anerkannt werden würde. Die Zahl der Grundwehrdiener stagniere derzeit bei 15.000 bis 16.000 jährlich. Auch das Rekrutierungspotential unter den freiwillig Dienst leistenden Frauen müsse besser ausgenutzt werden. Aktuell laufende durchgehende Assistenzleistungen verhinderten die notwendige Aus- und Weiterbildung sowohl von Grundwehrdienern als auch des Kaders und der Miliz. Diese seien daher nur im unbedingt notwendigen Ausmaß und selbst dann zeitlich limitiert durchzuführen.

Eine Anhebung des Budgets für die militärische Landesverteidigung auf zunächst 1 % danach anwachsend auf 1,5 % des BIP sei erforderlich, um das Bundesheer auf die Zukunft vorzubereiten, den Investitionsrückstand der letzten Jahrzehnte abzubauen und Fähigkeitslücken zu füllen, so das BMLV. (Schluss) wit