16.06

Bundesrätin Doris Hahn, MEd MA (SPÖ, Niederösterreich): Geschätzter Herr Präsi­dent! (Die Rednerin stellt eine Tafel mit der Aufschrift „517.221 Menschen ohne Job, Arbeitsplätze schaffen – Arbeitslosengeld erhöhen!“ auf das Rednerpult.) Sehr geehrter Herr Minister! Werte Damen und Herren Bundesrätinnen und Bundesräte! Geschätzte Damen und Herren via Livestream zu Hause! Wir haben es heute schon gehört: Sowohl das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission als auch der Bericht des Finanz­ministers dazu lassen sich vermutlich unter einer gemeinsamen Überschrift zusammen­fassen und diskutieren: Und dann kam Covid-19.

Natürlich darf das Ziel einer oft zitierten klimaneutralen, digitalen und gerechten Wirt­schaft innerhalb der EU nicht aus den Augen verloren werden, ganz im Gegenteil, aber wir wissen alle, dass eben diese weltweite Covid-19-Pandemie eine gewisse Prioritäten­verschiebung auch in diesem Zusammenhang nach sich ziehen muss und nach sich ziehen wird.

Die Kommission legt ihren Vorhaben zu Beginn des Jahres noch eine Wachstums­prognose von immerhin 1,2 Prozent zugrunde, die durchaus positiv und optimistisch war. Es war noch von der längsten Wachstumsphase seit Einführung der gemeinsamen Wäh­rung 1999 die Rede, von einer gestiegenen Beschäftigung, von stabiler Lohnentwicklung und von günstigen Finanzierungsbedingungen. Es wurden Maßnahmen und Schritte zu einer Banken- und Kapitalmarktunion gesetzt und vieles mehr.

Noch unter der kroatischen Präsidentschaft hat man sich zu einer verstärkten, noch bes­ser vernetzten und fairen Wirtschafts- und Währungsunion bekannt – ich nenne hier nur beispielhaft die europäische Einlagensicherung, um auch die Resilienz und Stabilität des EU-Bankensystems zu erhöhen. Ausgangspunkt für das Arbeitsprogramm waren also Rekordbeschäftigung und eine Arbeitslosigkeit auf dem niedrigsten Niveau seit der Jahr­hundertwende.

Nur wenige Wochen später ist diese Ausgangslage eine ganz andere, und die Rekord­werte sind den vorherigen genau diametral entgegengerichtet: Rekordarbeitslosigkeit in den meisten Ländern der EU, aber auch weltweit, wie auch in Österreich. Wir haben es heute schon mehrfach gehört: Über 500 000 Menschen sind derzeit immer noch von Ar­beitslosigkeit betroffen.

Nun gibt es verschiedene Pläne und Konzepte, wie eben dieser weltweiten Gesund­heitskrise, die sich bereits jetzt zu einer ganz massiven und schwerwiegenden wirtschaft­lichen und sozialen Krise entwickelt hat, auf europäischer Ebene entgegengewirkt wer­den kann und entgegengewirkt werden soll. Merkel und Macron legten ein mögliches Paket auf den Tisch – immerhin eine Budgeterhöhung von 500 Milliarden Euro –, das in Form von Zuschüssen an die Länder ausgeschüttet werden soll. Kommissionspräsi­dentin von der Leyen spricht gar von einem notwendigen 750-Milliarden-Euro-Paket, nämlich einem Wiederaufbaufonds, und dieser Plan ist aus meiner Sicht auch wichtig und richtig.

Was aber macht unser Bundeskanzler? – Gemeinsam mit drei anderen Staatschefs geht er einen ganz anderen Weg: Er möchte lediglich Kredite vergeben, die die betroffenen Länder dann natürlich auch zurückzuzahlen haben. Er meint, es handle sich beim Mer­kel-Macron-Modell, aber auch beim Modell von von der Leyen um eine Vergemein­schaftung von Schulden, wenn die Kommission diese Summe selbst als Kredite auf­nimmt, und Schulden sind für Kurz per se sozusagen böse. Kurz zeigt einmal mehr seine stark neoliberale Position, dass eben der Markt alleine alles regelt und dass der Schuld­ner quasi selbst schuld und dafür verantwortlich ist, wenn er eben Schulden aufnehmen muss.

Das ist aber leider so nicht richtig, wie wir wissen. Es haften eben nicht alle EU-Staaten für die Schuldenaufnahme, wie es Kurz und auch Minister Blümel in diesem Fall kommu­nizieren, sondern jedes Land im Ausmaß seiner Beiträge. Es verwundert also nicht, dass den vier rund um Kanzler Kurz schnell der Titel die sparsamen vier oder auch die gei­zigen vier, the frugal four, umgehängt wurde; auf Holländisch, glaube ich – Kollege Schreuder wird es mir bestätigen –, vrekkig, wenn ich mich richtig erinnere. Dänemark und Schweden haben sich aber bereits davon distanziert, weil auch sie erkannt haben, dass man Nettozahler und Nettoempfänger auf diese Art und Weise nicht gegeneinander ausspielen kann. In Wahrheit stehen also Kurz und Rutte inzwischen ganz isoliert da. Kurz isoliert in Wahrheit durch seine Haltung Österreich vom Rest der EU. Und so nebenbei sei bemerkt: So sparsam ist der Kanzler in anderen Bereichen nicht, zumindest nicht, wenn es zum Beispiel um sein PR-Budget geht. Da heißt es nach wie vor: Je mehr, desto besser!, aber das ist eine andere Geschichte. (Beifall bei der SPÖ.)

Es muss aus meiner Sicht jetzt um eine gesamteuropäische Kraftanstrengung gehen. Die Frage, die man sich jetzt eben auch aufgrund der Krise gemeinsam in noch verstärk­tem Maße stellen muss, ist: Wieso profitieren Konzerne wie beispielsweise Amazon von der Krise, während die Menschen, die kleinen Unternehmen, Einpersonenunternehmen ums tägliche Überleben kämpfen müssen? Diese Frage stellen sich auch in Österreich Hunderttausende Menschen tagtäglich.

Eines ist klar: Die Situation wird sich besonders in den südlichen Ländern noch eklatant verschärfen, wenn die EU nicht gemeinsam gegensteuert. Ich glaube, da sind wir uns einig: Eine Austeritätspolitik wie gegenüber Griechenland ist aus unserer Sicht ganz be­sonders kurzsichtig und kontraproduktiv. Eigentlich sollte es im Interesse Österreichs sein, wenn Länder eine echte Unterstützung bekommen, um dann auch ihre Wirtschaft in Gang zu bringen. Zu sagen, Österreich zahlt eh schon genug, ist eigentlich nur die halbe Wahrheit; man vergisst dabei geflissentlich zum Beispiel die nicht zu unterschät­zende Exportrate Österreichs und auch alle Handelspartnerschaften mit den verschie­densten Ländern, die eben nur dann funktionieren können, wenn unsere Partner auch entsprechend wirtschaftlich stabil sind. – Auf Agrarförderungen und dergleichen brauche ich auch nicht näher einzugehen; ich glaube, das wissen wir alle sehr genau.

Es ist jetzt aus meiner Sicht definitiv nicht die Zeit für nationalistisch fokussierte Interes­sen. Die gemeinsamen Ziele aller EU-Staaten müssen weiterhin sein: die Umsetzung eines European Green Deal – die Klimaneutralität ist hier als Stichwort zu nennen, eben­so wie nachhaltige Mobilität, die Biodiversität und vieles mehr –, eine gemeinsame Ar­beitsmarktpolitik – wie das Schaffen neuer Arbeitsplätze auch hier in Österreich ganz, ganz entscheidend sein wird –, eine gemeinsame Lohnpolitik im Hinblick auf faire Min­destlöhne, eine Lohntransparenz, Lohngerechtigkeit – der Genderpaygap ist immer noch ein Thema, auch in Europa –, Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit – das wird in den nächsten Jahren als eine Priorität Nummer eins gelten. All das muss gerade jetzt wirklich im Fokus sein und im Fokus bleiben; nicht zu vergessen: ein faires Steuer­system, das Schließen von Steuerschlupflöchern, von denen Konzerne, wie zum Bei­spiel Amazon, und ihre Aktionäre nach wie vor profitieren, eine Finanztransaktionssteuer und dergleichen – all diese Dinge müssen aufs Tapet und müssen auf den Weg gebracht werden.

Ein Thema, das noch schneller akut geworden ist, als uns das offensichtlich lieb war, ist eine gemeinsame Arzneimittelstrategie für Europa, um die Verfügbarkeit und vor allen Dingen auch die Qualität von Arzneimitteln und Medizinprodukten entsprechend sicher­zustellen und nicht zum Beispiel vom asiatischen Markt abhängig zu sein (Bundesrat Spanring: Das ist das, was wir immer schon gesagt haben!), wie wir es in den letzten Wochen ganz, ganz eklatant zu spüren bekommen haben.

Im Folgenden geht es auch um ein Sicherstellen eines funktionierenden Rechtssystems, um ein Sicherstellen der Demokratie und vieles andere mehr.

Aus meiner Sicht wird uns also neoliberales Denken nicht helfen können, ganz im Ge­genteil, und es wird das Gewähren von Krediten alleine auch bestimmt nicht reichen. Was wir seit der letzten Budgetdiskussion immer wieder feststellen müssen, ist schon eines, und das muss ich so sagen, wie es ist: Entweder Sie können es nicht besser beziehungsweise Sie wissen es nicht besser – und damit meine ich jetzt sowohl den Herrn Finanzminister als auch den Herrn Bundeskanzler –, oder Sie arbeiten ganz be­wusst und immer wieder mit sehr einseitigen Darstellungen. Ich hätte mir mehr Wirt­schaftskompetenz von Ihnen erwartet.

Populistische Botschaften, die nur dazu dienen, die eigenen Umfragewerte zu schönen, sind mir definitiv zu wenig. Ich glaube, diese Form von Taktieren lässt unser Zustand jetzt aufgrund dieser Krise in Wahrheit auch gar nicht zu. Die Menschen können nichts für diese Krise, und sie haben sich auch eine ordentliche Hilfe verdient. Daher: Hören wir auf mit dieser, im wahrsten Sinne des Wortes, kurzsichtigen Europapolitik, und stär­ken wir die jetzt noch stärker geschwächten Länder und damit in weiterer Folge auch den gesamten europäischen Raum!

Ich appelliere daher zu guter Letzt an Sie, Ihre Position nochmals zu überdenken – im Sinne eines geeinten Europas und im Sinne eines starken Europas. Ich glaube, der Satz „Geiz ist geil“ ist da der falsche Ansatz. – Danke schön. (Beifall bei der SPÖ.)

16.15

Vizepräsident Michael Wanner: Als Nächster zu Wort gemeldet ist Bundesrat Andreas Lackner. Ich erteile es ihm.