9.43

Bundesminister für europäische und internationale Angelegenheiten Mag. Alexander Schallenberg, LL.M.: Sehr geehrter Präsident! Sehr geehrte Mitglieder des Bundesrates! Danke für die Möglichkeit dieser heutigen Aussprache zu einem Thema, das man, glaube ich, in seiner Bedeutung gar nicht überschätzen kann.

Ja, heute vor 442 Tagen ist der Krieg auf unseren Kontinent zurückgekehrt. Wir haben gerade letztes Wochenende und am Anfang dieser Woche mit dieser massiven Angriffswelle Russlands mit Raketen und Drohnen auf mehrere Städte in der Ukraine – Kiew, Charkiw, Cherson, Odessa und andere – erlebt, dass der Krieg keine Pause kennt, dass Russland weiterhin ganz klar zeigt, dass es den Druck aufrechterhalten wird, dass es den Angriffskrieg fortsetzen und weiterhin das gesamte ukrainische Territorium als Kriegsgebiet und als Kriegsziel sehen wird. Wir müssen leider davon ausgehen, dass die Brutalität die­ser Auseinandersetzungen in den nächsten Monaten zunehmen wird.

Aus meiner Warte ist es ganz wichtig, dass wir weiterhin voll und ganz hinter der Ukraine in ihrer Notwehr, in ihrem Kampf um die Wiederherstellung der ter­ritorialen Souveränität stehen. Jetzt kann man natürlich fragen: Warum? Warum positioniert sich die österreichische Bundesregierung seit 24. Februar 2022 in dieser Frage so klar? – Die Antwort ist ganz einfach: weil es um unsere Sicher­heit geht, weil wir seit dem Zweiten Weltkrieg für ein System eintreten, in dem es eine regelbasierte internationale Ordnung gibt, in dem das Prinzip Pacta sunt servanda gilt, in dem Völkerrecht eingehalten wird. Das ist für einen Staat wie Österreich mit neun Millionen Einwohnern im Zentrum dieses Konti­nents überlebenswichtig. (Beifall bei ÖVP und Grünen sowie des Bundes­rates Arlamovsky.)

Lassen Sie sich bitte ins Stammbuch schreiben: Es hat ja mitnichten etwas mit Neutralität zu tun. (Beifall bei der ÖVP, bei Bundesrät:innen der Grünen sowie des Bundesrates Arlamovsky. – Zwischenrufe bei der FPÖ.) Wir waren noch nie gesinnungsneutral. Nur ein Beispiel: Was hat das damals junge Österreich gemacht, als 1956 sowjetische Panzer durch Budapest gerollt sind, kaum zwölf Monate in voller Souveränität, kaum zwölf Monate nach der Annahme des Bundesverfassungsgesetzes über die immerwährende Neutralität? – Wir haben jede Resolution in der UNO-Generalversammlung gegen die Sowjetunion unterstützt und sogar eine eigene eingebracht, weil wir eben immer wissen, wo wir stehen, wenn es einen Angriff auf Freiheit, auf Demokratie oder auf Pluralismus gibt; und das tun wir bitte diesmal auch. (Beifall bei ÖVP und Grünen sowie des Bundesrates Arlamovsky.)

Ich tue mir manchmal schwer, wenn man immer wieder sozusagen Andeutungen oder sogar explizite Verschwörungstheorien hört, wenn gesagt wird, das mit der Einzigartigkeit sei eine Lüge. Ich mache einen kleinen Vergleich, gebe einen Hinweis: Das letzte Mal, dass ein Staat A einen Staat B in dieser Form über­fallen hat, war Saddam Husseins Überfall auf Kuwait. Was war die Kon­sequenz? – Sicherheitsratsresolutionen, Desert Storm und die Befrei­ung Kuwaits. Das ist die Situation, in der wir uns jetzt befinden. Ja, wir stehen geschlossen, wir können stolz darauf sein, was wir als westliche Gemein­schaft in den letzten 14 Monaten gezeigt haben: die Geschlossenheit. (Bundesrat Spanring: Lernen Sie Geschichte, Herr Kanzler! – Bundesrat Kornhäusl: Das sagt der Richtige! – Zwischenrufe der Bundesrät:innen Doppler, Hahn, Hübner und Schumann.) – Ja, eben deswegen verweise ich Sie darauf (Heiterkeit des Redners): Lernen Sie Geschichte! Ich halte es für relativ absurd, dass wir leider Gottes so eine Debatte führen, wir lassen uns auf jeden Fall als Bundesregierung nicht davon beirren, wir werden diesen Kurs weitergehen, denn – noch ein­mal – es geht um unsere Sicherheit.

Mit der Geschlossenheit, die wir an den Tag gelegt haben, hat der russische Präsident nicht gerechnet. Er hat gedacht, dass wir als westliche Demokratien schwach und ungeeint seien und wie aufgescheuchte Hendln herumlaufen würden. Dass wir seit dem 24. Februar so geschlossen gestanden sind, das ist unsere größte Stärke und das müssen wir weiterführen. (Beifall bei ÖVP und Grünen.) Aber: Bitte auch mit Augenmaß! Ich bin der Erste, der das einfor­dert, und das habe ich immer wieder gesagt.

Dass ich dafür kritisiert wurde, dass ich letzten Dezember bei der OSZE-Ministertagung in Łódź der einzige westliche Minister war, der gesagt hat, es ist ein Fehler, den russischen Außenminister Sergei Lawrow nicht einzuladen, dass ich dafür kritisiert wurde, weil ich Völkerrecht eingehalten habe, als ich der russischen Delegation für die Parlamentarische Versammlung der OSZE ein Visum ausgestellt habe, dass ich kritisiert wurde, dass ich die europäische Einig­keit unterminiere, weil ich für Augenmaß gegenüber der Russischen Föde­ration plädiert habe, das gibt mir schon zu denken. Diese Einigkeit ist keine Selbstverständlichkeit, aber wir werden weiterhin daran arbeiten.

Natürlich ist es eine Frage der Logik: Friede wird immer nur am Verhand­lungstisch gefunden, nie am Schlachtfeld. Daher bin ich der Erste, der gern wie­der Raum für die Diplomatie, Raum für Verhandlungen will. Wir müssen aber auch realistisch sein (Zwischenruf des Bundesrates Steiner): Noch haben wir diesen Raum nicht, noch gibt es einen Aggressor, der vor sechs Tagen mit Drohnen- und Raketenangriffen auf das gesamte Territorium der Ukraine – in zwei Dritteln des Landes gab es in den letzten Tagen Luftalarm – wieder klar signalisiert hat, dass er überhaupt nicht an internationalen Verhandlungen interessiert ist.

Wir dürfen bei dem Ganzen auch etwas nicht vergessen: Die Art, wie wir agieren, hat letztlich massive Auswirkungen auf unser internationales Standing. Ob wir wollen oder nicht, das ist nun einmal so. Die Art, wie die westliche, freie Welt zusammensteht, wird wahrgenommen – in Buenos Aires, in Pretoria, in New Delhi. Daher ist es auch wichtig, dass wir nicht vergessen – so wie Guterres es einmal gesagt hat –, das ist ein Krieg in Europa, aber kein europäi­scher Krieg. Wir müssen auch sehr bedacht – es wurde angesprochen – auf einen Outreach sein; ich denke da an den globalen Süden, Afrika ist erwähnt worden. Das ist wahnsinnig wichtig, denn ich habe in den letzten Monaten gemerkt – sei es in Davos, in Doha oder bei der Sicherheitskonferenz in München, wo ich einen besonderen Fokus auf Gespräche mit meinen Kollegen gerade vom afrikanischen Kontinent gelegt habe –, dass unsere Wahrneh­mung, unser vielleicht eurozentristischer Blick auf diesen Konflikt größtenteils nicht geteilt wird, zum Teil auch nicht verstanden wird und dass wir uns er­klären müssen, dass wir einen Outreach machen müssen, dass wir diesen Staaten auf Augenhöhe ohne moralischen Zeigefinger und Besserwisserei begegnen müssen.

Nur ein kleines Beispiel: Ich war vor drei Wochen in Vietnam, einem Land, das eigentlich eine sehr ähnliche Geschichte hat: Es hat einen großen Nachbar, spürt den heißen Atem dieses großen Nachbarn, der massive Gebietsansprüche stellt – Südchinesisches Meer –, diese auch militärisch durchzusetzen ver­sucht. Die Analyse Vietnams, meines Kollegen in Hanoi ist identisch mit unserer: Sie sagen, ja, sie wollen die UNO-Charta, sie wollen das Gewaltverbot, sie wollen den Respekt territorialer Souveränität und Integrität. Der einzige Unter­schied ist – im letzten Meter trennen wir uns –: Vietnam enthält sich bei allen Resolutionen in der UNO – wir stimmen dafür. Als ich ihn gefragt habe, wa­rum, hat er gesagt: Geschichte, mein Freund, Geschichte. – Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Das heißt, ich bin gegen ein Schwarz-Weiß-Malen: Entwe­der bist du bei uns, weil du Sanktionen übernommen hast, oder nicht. Die Welt weist verschiedene Schattierungen von Grau auf, und das müssen wir zur Kenntnis nehmen.

Für mich ist die rote Linie die folgende: Es geht nicht darum, ob ein Staat die Sanktionen angenommen hat – das kann ja auch nur pro forma sein –, son­dern ob ein Staat willentlich und bewusst eine Plattform zur Umgehung der Sanktionen, die wir verhängt haben, ist. Ich halte es daher für sehr richtig, dass wir in der Europäischen Union zum ersten Mal überlegen, oder das jetzt konkret in Angriff nehmen, dass wir gegenüber diesen Staaten vorgehen und sagen: Wenn wir sagen, wir wollen gewisse Dual-Use-Güter nicht nach Russland exportieren, und plötzlich merken, dass die Handelsströme in einen gewissen Drittstaat massiv steigen und das alles in Russland landet, dann unterminiert das unsere Unterstützung für die Ukraine und unsere Sank­tionen. – Das werden wir auf jeden Fall weitermachen, aber bitte kein Schwarz-Weiß-Denken.

Ein Punkt, den ich auch machen will: Bei allem Fokus auf die Ukraine dürfen wir nicht auf andere Krisenherde vergessen. Wir sehen uns eigentlich eh schon dem Vorwurf der Doppelmoral ausgesetzt, dass wir uns sozusagen so gerieren: Es geht um Kaukasien, es geht um Europa, es geht um uns!, und andere Kon­flikte vergessen. Da müssen wir ganz klar dagegenhalten und dürfen den Fokus nicht verlieren. Denken wir zum Beispiel an den Sudan: eine echte humani­täre Tragödie! Ich verurteile ganz klar die laufenden Kämpfe und ich habe zu ei­ner nachhaltigen Waffenruhe aufgerufen, und vor allem die Sicherheit der humanitären Hilfe und auch die Unverletzlichkeit diplomatischer Missionen muss im Sudan gewährleistet sein.

Lassen Sie mich diese Gelegenheit nur kurz nutzen, um auch Folgendes zu sagen: Dass es uns mithilfe internationaler Partner – Deutschland, die Niederlande, Spanien, andere; das war gelebte europäische Solidarität! – gelungen ist, 55 Per­sonen aus dem Sudan herauszubringen, darunter 27 Kinder, ist für mich wie­der ein Beweis – lassen Sie mich das bitte in diesem Raum sagen –, wie wichtig ein eigenständiges österreichisches Vertretungsnetz im Ausland ist. Das ist im Krisenfall unsere Lebensversicherung! (Beifall bei ÖVP und Grünen.)

Erlauben Sie mir, meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an den österrei­chischen Botschaften in Kairo, Berlin, Den Haag, Amman – und wir haben für die Zeit der Krise auch eine Botschafterin von Addis Abeba nach Dschibuti ver­legt – für ihren unglaublichen Einsatz zu danken. Wir brauchen dieses Netz. Das ist für uns die rot-weiß-rote Lebensversicherung im Ausland. Ich bitte da­her auch in Zukunft um Unterstützung für dieses starke österreichische Netz im Ausland. (Beifall bei der ÖVP.)

Wenn ich vielleicht noch zwei kurze Punkte ansprechen darf: Eine Region, die bis jetzt noch nicht wirklich genannt wurde, die aber wesentlich ist, ist na­türlich die Region des Indopazifik. Das ist in Wirklichkeit, wenn man will, das geopolitische und ökonomische Gravitationszentrum des 21. Jahrhunderts. Es ist auch, wenn man will, die Wachstumsregion schlechthin. Bereits heute ent­fällt mehr als ein Drittel der globalen Wirtschaftstätigkeit auf diese Region, und in den nächsten 20 Jahren wird das auf über 50 Prozent anwachsen. Es ist daher kein Zufall, dass ich in den letzten 18 Monaten sechsmal den indischen Mi­nister getroffen habe, dass ich in Südkorea war, dass ich in Vietnam war, jedes Mal auch von einer Wirtschaftsdelegation, von österreichischen Unterneh­mern begleitet, weil wir natürlich angesichts des Erdbebens und der Hang­rutschung im Osten neue Märkte suchen, und dabei wird das österreichische Mi­nisterium natürlich wie gehabt – und wie das traditionell immer sehr gut funk­tioniert – als Netzwerk, als Plattform und als Türöffner agieren. Für uns gilt: Wir müssen Partnerschaften schmieden. Wir dürfen nicht nur auf den euro­päischen Kontinent schauen, sondern wir müssen auch in diese Region schauen, denn würden wir das, was wir gerade in der Ukraine erleben, mit Tai­wan und China erleben, dann wären die globalen Auswirkungen für die Welt­wirtschaft um ein Vielfaches größer als das, was wir heute erleben.

Letzter Punkt – und das wird Sie nicht überraschen –: Westbalkan. Wenn wir auf den Osten schauen, dann dürfen wir – gerade in Wien – nicht den Süden ver­gessen; für uns ist das der Süden. 500 Kilometer von hier ist die Ukraine, dort ist Krieg, aber 500 Kilometer im Süden liegt Bosnien-Herzegowina. Das ist ge­nauso eine Region, die volatil ist, die dem Einfluss von dritten Mächten ausgelie­fert ist und wo wir jetzt einfach Nägel mit Köpfen machen müssen und klar­machen müssen: Ihr gehört in die europäische Familie hinein! – Entweder wir ver­ankern dort unser Lebensmodell oder wir werden dort irgendwann mit frem­den Lebensmodellen konfrontiert sein, seien sie russischer, chinesischer, türkischer oder sonstiger Provenienz, und das kann nicht in unserem Interesse sein. (Beifall bei ÖVP und Grünen.)

Für mich ist der Westbalkan, wenn man so will, der geostrategische Elchtest für die Europäische Union. Wenn wir es in dieser Region, die nicht der Hinter­hof Europas ist, sondern der Innenhof – umgeben von EU-Mitgliedstaaten: Bul­garien, Rumänien, Kroatien, Griechenland, auf der anderen Seite Italien –, nicht schaffen, geostrategisch zu agieren, dann brauchen wir an andere Weltge­genden gar nicht zu denken.

Ich sage etwas ganz klar: Was ich nicht will, ist – ich habe es einmal so formu­liert – die „Farm der Tiere“ von George Orwell in der Frage der Beitritts­kandidaten. Nein, ich will nicht, dass man sagt: Alle Beitrittskandidaten sind gleich, aber manche sind gleicher als andere, und die Ukraine kriegt sozu­sagen die Überholspur und der Westbalkan bleibt am Pannenstreifen. – Das wird es mit Österreich nicht spielen. – Vielen Dank. (Beifall bei der ÖVP sowie der Bundesrätin Hauschildt-Buschberger.)

9.56

Präsident Günter Kovacs: Herzlichen Dank, Herr Bundesminister.

Ich mache darauf aufmerksam, dass die Redezeit aller weiteren Teilnehmer:innen an der Aktuellen Stunde nach Beratungen in der Präsidialkonferenz 5 Minuten bitte nicht übersteigen darf.

Zu Wort gemeldet ist Herr Mag. Christian Buchmann. – Bitte, Herr Bundesrat.