13.26

Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz Rudolf Anschober: Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte mich kurz jetzt in die Debatte einmengen, weil Sozialpolitik natürlich gerade in Zeiten von Corona eine ganz entscheidende politische Funktion hat, und die sollten wir sehr, sehr ernst nehmen, denn die Dinge werden schwieriger. Wir wissen, dass die Coronasituation viele Bereiche und das Leben vieler Menschen, die ohnedies bereits in schwierigen Lebenssi­tuationen gewesen sind, noch einmal akut erschwert hat, dass Teile dieser Bevölkerung in noch schwierigeren Lebenssituationen sind – Menschen mit Behinderungen zum Bei­spiel. Das heißt, wir müssen gemeinsam – und das ist mein Appell: gemeinsam zu arbei­ten – sehr, sehr sorgsam und sehr aktiv damit umgehen, damit aus dieser Gesundheits­krise keine schwere soziale Krise wird. Das ist unsere Aufgabe und unsere Verantwor­tung.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, vielleicht haben es manche von Ihnen regis­triert: Heute Früh wurde der EU-Statistikbericht Einkommen und Lebensbedingun­gen 2019 präsentiert. Das ist ein ganz wichtiger Bericht, der gezeigt hat, dass sich die Dinge in Europa insgesamt, auf einem so reichen und weitgehend so wohlhabenden Kontinent, nicht so entwickeln, wie es faire und gerechte Lebensbedingungen erwarten lassen würden. Wir haben europaweit die Situation, dass 21,8 Prozent der europäischen Bürgerinnen und Bürger derzeit armuts- oder ausgrenzungsgefährdet sind. Stellen Sie sich diese Zahlen einmal vor! Mehr als ein Fünftel Europas ist nach dieser EU-Statistik, die unbestritten ist, derzeit armuts- oder ausgrenzungsgefährdet.

Österreich liegt deutlich besser, und das ist gut so. Wir sind derzeit bei 16,9 Prozent, aber ich sage, dass wir mit diesen 16,9 Prozent nicht zufrieden sein können – ganz im Gegenteil. Es muss unser Anspruch sein, gemeinsam daran zu arbeiten, dass Menschen in dieser Risikosituation, die eine deutliche Verringerung der Möglichkeiten bedeutet, soziale Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen erleben können. Dazu müssen wir aktiv werden. Nach diesen Zahlen sind in Österreich immerhin fast 1,5 Millionen Men­schen betroffen. Ihnen muss die Hauptkonzentration gelten. In einem reichen Land muss das veränderbar sein. In einem reichen Land muss es mehr Gerechtigkeit geben. In einem reichen Land müssen wir schauen, dass wir fairer miteinander umgehen und dass wir gerade in Situationen, in denen die Krise die schwierigsten Lebenssituationen noch einmal erschwert, extrem aufpassen und gegensteuern, damit das nicht zu dieser so­zialen Krise führt, an deren Beginn wir mittlerweile bereits stehen.

Ich bin froh, dass wir in vielen Bereichen erste Schritte verankert haben – die Hilfs- und Unterstützungsfonds sind ein Teil davon.

Ich bin froh darüber, dass daran gearbeitet wird, dass die Zugangsmöglichkeiten verein­facht werden, dass wir da auch schneller werden, und ich bin froh darüber, dass wir auch sozialpolitische Absicherungsmaßnahmen etwa aus dem Familienbereich verankert haben, die direkt in Richtung Bekämpfung der Notsituation von Betroffenen gehen, etwa auch die Frage der Notstandshilfe und ihrer entsprechenden Anhebung.

Das alles sind erste wichtige Schritte, aber es dürfen nicht die endgültigen Schritte sein. Wir müssen und wir werden da zulegen und in diesem Bereich konsequent weiterar­beiten. – Das ist das eine.

Was ich betreffend Corona ja schon sehr spannend finde, ist: In vielen Detailbereichen zeigt uns diese Krise auf, wo die sozialen Probleme tatsächlich zu Hause sind. Wir wis­sen aufgrund unterschiedlichster Berichte, dass in manchen Teilbereichen prekäre Ar­beitssituationen in Österreich zugenommen haben. Ich bin jetzt kein Schlechtredner von Leiharbeit generell, aber dass wir dabei auch Problembereiche haben, das ist, glaube ich, unbestritten.

Wenn wir uns diesen aktuellen Ausbreitungscluster in Niederösterreich und Wien anse­hen, dann merken wir ganz klar: Die Dinge hängen zusammen! Ich habe derzeit dort die Akutprobleme, wo die prekärsten Lebenssituationen, Wohnsituationen und Arbeitssitua­tionen vorhanden sind. Deswegen werden wir in Österreich in den nächsten Wochen ein großes, breites, umfassendes Screeningprogramm realisieren, mit dem genau in diesen Bereichen getestet wird. Wir dürfen es nämlich nicht zulassen, dass die Decke dort drü­bergebreitet wird, sondern wir müssen aufklären und wir müssen dafür sorgen, dass das Mindeste, was soziale Absicherung bedeutet, nämlich gesundheitliche Sicherheit, garan­tiert wird – auch in diesen bedrohten und riskanten Lebensbereichen, die da sichtbar geworden sind. (Beifall bei den Grünen und bei Abgeordneten der ÖVP.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist gerade eine Gruppe, bei der das be­sonders sichtbar wird, was Corona auch bedeutet und wie sehr sie eine Zuspitzung trifft, das sind Menschen mit Behinderungen. – Ja, ich sage es ganz offen und ehrlich: Auch wir waren in den letzten Wochen, am Beginn der Krise, was die Einbindung dieser Be­völkerungsgruppe betrifft, nicht so offensiv, wie es notwendig gewesen wäre. Ja, das ist so. – Wir haben dazugelernt, binden nun Menschen mit Behinderungen auch in den Kri­senstab mit ein, damit dort immer eine direkte Vertretung gegeben ist und damit die Anliegen, die sehr spezifischen Themenfelder und die spezifische Betroffenheit jeweils auch sehr schnell Teil der Gesamtstrategie sind und wir nicht im Nachhinein etwas repa­rieren müssen. Das ist mir ganz, ganz wichtig.

Das Zweite ist, wir arbeiten bereits am Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Behin­derungen, in dem nun erstmals alle Regierungsressorts miteingebunden sind. Das ist kein Thema des Sozialministeriums allein, das ist ein Wirtschaftsthema, das ist ein Bil­dungsthema, das ist ein Familienthema, das ist ein Jugendthema, das ist ein Thema unserer Gesellschaft, also ein Thema von uns allen. Darum wird es gehen: dass wir spätestens 2021 mit diesem Gesamtpaket dann in Richtung faire Chancen auch für Men­schen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft durchstarten.(Beifall bei den Grünen und bei Abgeordneten der ÖVP.)

Um zu Kollegen Stöger zu kommen: Er hat mit den Pensionen begonnen, und einen Satz habe ich wirklich für hervorragend erachtet. Dem kann auch ich zustimmen, nämlich der Aussage, dass wir tatsächlich auf ein wirklich solides System aufbauen, das über Jahrzehnte hindurch erarbeitet wurde, das in Teilbereichen für ganz bestimmte Bevölke­rungsgruppen noch Schwächen hat, aber auf das wir im Wesentlichen stolz sein können und das nicht schlechtgeredet werden soll.

Herr Kollege Loacker! Ja, ich bin keiner, der schnell schießt, weil ich dabei keine ideo­logischen Motive habe; das unterscheidet uns zwei vielleicht in dieser Frage. (Beifall und Bravoruf bei den Grünen sowie Beifall bei Abgeordneten der ÖVP. – Zwischenruf der Abg. Belakowitsch.) Ich will mich nicht mit sehr, sehr unterschiedlichen Prognosen ab­speisen lassen in der von Ihnen angezogenen Frage, die tatsächlich ein Thema ist, die sensibel ist, sondern ich will Fakten am Tisch haben – und Fakten am Tisch haben heißt, dass die tatsächlichen Zahlen auf den Tisch gehören. (Zwischenrufe der Abgeordneten Loacker und Schnedlitz.) Die können wir aber nicht nach zwei, drei Monaten haben, sondern die können wir erst dann haben, wenn es tatsächlich Zahlungen und Zahlen gibt. Dann werden wir bewerten und dann werden wir entscheiden. – So geht das einfach bei uns, und ich stehe dazu, dass das ein guter Weg ist. (Beifall bei Grünen und ÖVP.)

Zuletzt von meiner Seite noch ein Punkt, der mir persönlich ein großes Anliegen ist. Es ist natürlich nur ein Symbol, wenn eine Regierung den Namen eines Spezialprojektes direkt in den Titel des zuständigen Ministeriums gibt, nämlich die Pflege. Das ist ein Symbol – und es muss mehr werden als ein Symbol, und ich verspreche und garantiere Ihnen, dass es mehr wird als ein Symbol.

Wir haben im Jänner sehr, sehr schnell mit den Vorbereitungsarbeiten für die große Pfle­gereform begonnen. Ich weiß, dass mittlerweile – ich nenne es einmal so – der Lei­densdruck auch für die Bundesländer so groß ist, dass wir erstmals, glaube ich, in dieser Frage wirklich an einem Strang ziehen. Man kann eine Pflegereform nur realisieren, wenn gesamthaft agiert wird und wenn alle miteinander dieses Reformprojekt unterstüt­zen. Deswegen muss man vorher reden, deswegen muss man die Menschen ernst neh­men, deswegen muss man Institutionen, Betroffene miteinbeziehen und daraus einen gemeinsamen Prozess machen, sonst bleibt das wieder Stückwerk, und das will ich nicht und das können wir uns auch nicht mehr leisten.

Uns fehlen in relativ kurzer Zeit 75 000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Wer soll die herbeizaubern, wenn wir nicht jetzt die Weichen dafür stellen, dass wir diese Problem­felder im Bereich der Pflege tatsächlich in Angriff nehmen? Das ist die zentrale Aufgabe. Deswegen haben wir unseren Fahrplan für die Pflegereform neu aufgesetzt. Er wird im September noch einmal neu gestartet – in der Hoffnung, dass wir ein Themenfeld, das Sie genau kennen, das uns in den letzten Wochen und Monaten ziemlich beschäftigt hat, bis dorthin so weit unter Kontrolle bringen können, dass wir uns tatsächlich wieder stärker den offensiven, den vorwärtsorientierten Aufgabenstellungen widmen können. Das ist das eigentliche Ziel.

In der Zwischenzeit war es auch nicht einfach, denn wir kennen die Lebenssituation von 24-Stunden-Betreuerinnen, wir kennen die Lebenssituation von pflegenden Angehöri­gen, und wir wissen, dass das unfassbar schwierige Arbeits- und Lebenssituationen sind – und ja, die sind durch Corona noch einmal schwieriger geworden. Auch da hat das System gezeigt, wo die Schwächen sind.

Deswegen arbeiten wir zum Beispiel mit den Bundesländern ganz intensiv daran, dass wir diese Bedrohungen des Systems, die vorhanden waren und vorhanden sind, gut ab­fangen. Dafür hat dieses Haus 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Dafür bedanke ich mich. Das ist extrem gut investiertes Geld, damit wir die Betroffenen gerade in einer derartigen Krisenlage und Krisensituation eben nicht alleine lassen. (Beifall bei den Grü­nen, bei Abgeordneten von ÖVP und NEOS sowie des Abg. Köllner.)

Mir ist noch ein Punkt wichtig. Wir haben viele stationäre Einrichtungen. Wir haben zwar selbstverständlich einen Vorrang für den häuslichen Bereich, für den mobilen Bereich, aber auch der stationäre Bereich ist sehr, sehr wichtig, und wir wissen von unseren Nachbarländern, dass das betroffene Menschen waren und sind, die extrem unter Druck gekommen sind, weil sie die Verletzlichsten in dieser Coronakrise waren und sind.

Wenn Sie mit mir nach Italien, Frankreich, Spanien und in andere Länder schauen und wir uns gemeinsam ansehen, welches Ausmaß diese Bedrohung hatte und hat, wie viele Todesfälle es in diesem Bereich der Bewohner und Bewohnerinnen von Einrichtungen etwa gegeben hat, dann, glaube ich, erkennen wir, dass es gut, richtig und klug war, dass wir von Beginn an diese Institutionen sehr, sehr gut geschützt haben.

Das hat aber auch dazu geführt, dass es für Betroffene und von Betroffenen auch soziale Schwierigkeiten gegeben hat, und wir sind deswegen derzeit dabei, dass wir von den Institutionen für Menschen mit Behinderungen über die Alten- und Pflegeheime bis zu den Krankenanstalten einen Öffnungsprozess verwirklichen, der dafür sorgt, dass wir schrittweise wieder in Richtung der Alltagssituation des Lebens kommen. Dafür arbeiten wir gerade. Die ersten entsprechenden Empfehlungen werden am Wochenende für die Krankenanstalten präsentiert und veröffentlicht, und ich gehe davon aus, dass wir in etwa zehn Tagen so weit sind, die Öffnungsmaßnahmen für den gesamten Bereich prä­sentieren zu können, damit wir wieder eine Balance zwischen den sozialen Notwendig­keiten und Möglichkeiten und dem Schutz der Betroffenen finden. – Das ist das Ziel. (Beifall bei den Grünen und bei Abgeordneten der ÖVP.)

13.39

Präsident Ing. Norbert Hofer: Nun gelangt Frau Mag.a Verena Nussbaum zu Wort. – Bitte, Frau Abgeordnete.