Fachinfos - Judikaturauswertungen 11.08.2022

„2Gplus“-Regel im Deutschen Bundestag

Kein einstweiliger Rechtsschutz gegen „2Gplus“-Regel im Deutschen Bundestag (11. August 2022)

Dt. BVerfG 26.1.2022 und 8.3.2022, 2 BvE 1/22

Das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wies zwei Anträge auf Erlass einst­weiliger Anordnungen in Zusammenhang mit der Einführung einer „2Gplus“-Regel im Deutschen Bundestag (BT) ab. Die Partei Alternative für Deutschland (AfD) sowie ei­nige ihre Mitglieder beantragten einerseits, ihren (nicht geimpften bzw. nicht genese­nen) Abgeordneten Zugang zu einer Gedenkveranstaltung des BT zu gewähren, und andererseits, die „2Gplus“-Regel generell vorläufig außer Kraft zu setzen. In beiden Ver­fahren erachtete das BVerfG das Vorliegen eines schweren Nachteils, welcher die Ge­währung vorläufigen Rechtsschutzes erforderlich mache, als nicht ausreichend darge­legt. Das den Verfahren zugrundeliegende Organstreitverfahren ist weiterhin anhängig.

Sachverhalt

Mit 12. Jänner 2022 wurden die Zugangsregeln zu den Gebäuden des BT für Abgeord­nete durch eine Allgemeinverfügung der Präsidentin des BT verschärft. Für den Zutritt zu den Bundestagsgebäuden galt fortan die „2Gplus“-Regel (d. h. Zugang nur für ge­impfte und genesene Personen, die zusätzlich einen aktuellen Antigen-Schnelltest oder PCR-Test bzw. den Erhalt einer Booster-Impfung nachzuweisen haben). Mit Mehrheits­beschluss vom 12. Jänner 2022 genehmigte der BT die Allgemeinverfügung. Sie galt zeitlich befristet und trat am 13. März 2022 außer Kraft.

Für Plenarsitzungen, Ausschusssitzungen sowie für Veranstaltungen des BT sah die All­gemeinverfügung jeweils gesonderte Regelungen vor. Zutritt zu Plenarsitzungen erhiel­ten jene Mitglieder des BT, welche keinen „2Gplus“-Nachweis erbringen konnten, nur nach Nachweis eines negativen Testergebnisses und nur zu gesonderten Plätzen auf den Tribünen. Die aktive Sitzungsteilnahme auf den Tribünen wurde durch technische und organisatorische Vorkehrungen weitgehend gewährleistet (hier kam es zu schritt­weisen Verbesserungen der Teilnahmemöglichkeiten im Laufe des Jänners). Auch für den Zutritt zu Ausschusssitzungen wurde die „2Gplus“-Regelung gegenüber Mitglie­dern des BT insoweit gelockert, als (nur) negativ getestete Abgeordnete Zugang zu ge­sonderten Plätzen auf den Tribünen erhielten. Weder geimpft, genesene oder getestete Mitglieder des BT konnten zudem im Wege elektronischer Kommunikationsmittel an Ausschusssitzungen teilnehmen (hier bestand somit, anders als bei Plenarsitzungen, keine „Testpflicht“). Die Teilnahme an Veranstaltungen des BT war ausnahmslos nur für Personen gestattet, die einen „2Gplus“-Nachweis erbringen konnten. Es wurde keine Möglichkeit einer Teilnahme auf der Tribüne oder im Wege elektronischer Kommuni­kationsmittel ermöglicht.

Die AfD-Fraktion im BT sowie mehrere ihrer Mitglieder (Antragsteller) setzten sich ge­gen die Allgemeinverfügung im Rahmen eines Organstreitverfahrens vor dem BVerfG zur Wehr. Sie begehrten die Feststellung, dass die Präsidentin des BT sowie der BT (Antragsgegner) durch die Allgemeinverfügung gegen ihre Abgeordnetenrechte nach Art. 38 GG sowie ihr Recht auf effektive Opposition verstoßen haben. Genauer, indem sie es nicht vollständig geimpften Abgeordneten (1.) gänzlich unmöglich machten, an einer Veranstaltung zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Jänner 2022 (Gedenkstunde) teilzunehmen, und es ihnen (2.) unmöglich machten, gleichbe­rechtigt und diskriminierungsfrei an der Wahrnehmung der parlamentarischen Aufga­ben teilzuhaben.

Im Rahmen dieses Organstreitverfahrens stellten die Antragsteller die hier behandelten beiden Anträge auf Erlass einstweiliger Anordnungen. Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes beantragten die Antragsteller zum einen, nicht vollständig geimpften Abgeordneten Zugang zu der Gedenkstunde zu gewähren und zum anderen, die Allge­meinverfügung einstweilig außer Vollzug zu setzen.

Entscheidung des Deutschen Bundesverfassungsgerichts

Das BVerG verwarf beide Anträge – mit Beschluss vom 26. Jänner und vom 8. März 2022 – als unbegründet. Die Antragsteller hätten nicht hinreichend substantiiert dar­getan, dass ihnen ein schwerer Nachteil droht, zu dessen Abwehr der Erlass einstweili­ger Anordnungen dringend geboten wäre. Die Anträge seien daher unzulässig.

Beschluss vom 26. Jänner 2022: Teilnahme an Gedenkstunde anläss­lich des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Begründend hatten die Antragsteller unter anderem vorgebracht, dass mindestens 42 und damit über 50% der Abgeordneten der AfD ungeimpft seien. Davon seien 29 ohne Genesenenstatus. Der Ausschluss von nicht geimpften und nicht genesenen Abgeord­neten bewirke eine nachhaltige Behinderung der Antragsteller in der Erfüllung ihrer Aufgaben im demokratischen Gefüge. Die Versagung des Zugangs stelle eine schwer­wiegende Verletzung des Abgeordnetenstatusrechts und des Rechts auf effektive par­lamentarische Opposition dar. Gerade „angesichts einer gänzlich verzerrten Darstellung der Position der AfD zum Gedenken an den Holocaust in der Öffentlichkeit“ sei es drin­gend geboten, ihnen die Teilnahme an der Gedenkstunde zu ermöglichen. Der Schutz­zweck der getroffenen Anordnung könne genauso gut durch die Testung der Teilneh­mer:innen erreicht werden.

Diesen Argumenten folgte das BVerfG nicht:

Das BVerfG hielt zunächst fest, dass Gedenkstunden sich deutlich von der sonstigen parlamentarischen Arbeit unterscheiden. Die Antragsteller hätten nicht dargelegt, in­wiefern die Teilnahme an der Gedenkstunde für die Wahrnehmung des freien Mandats und der politischen Willensbildung von Relevanz sind. Der Ausschluss einzelner Abge­ordneter aus Gründen des Infektionsschutzes und der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des Parlaments könne auch nicht zu einer Beeinträchtigung der Möglichkeit zur Aus­übung effektiver parlamentarischer Opposition führen.

Zudem hätte der Großteil der Abgeordneten der AfD an der Gedenkstunde teilnehmen können. Daher sei eine sichtbare Präsenz der AfD an der Gedenkstunde jedenfalls ge­währleistet. Das Vorbringen der AfD, dass ihre geschlossene Teilnahme aufgrund einer verzerrten Darstellung ihrer Position zum Gedenken an den Holocaust in der Öffent­lichkeit besonders wichtig sei, erachtete das BVerfG für nicht nachvollziehbar. Die Par­tei sei auch nicht daran gehindert, diesbezüglichen Befürchtungen im Wege der Öffent­lichkeitsarbeit entgegenzutreten.

Im Ergebnis sei ein schwerer Nachteil – im Fall der Nichterlassung der einstweiligen Anordnung – nicht hinreichend substantiiert dargelegt worden.

Beschluss vom 8. März 2022: Teilnahme an Plenar- und Ausschuss­sitzungen

Die Antragsteller brachten hierzu begründend unter anderem vor, dass die Teilnahme an Plenardebatten von der Tribüne aus nur in sehr eingeschränktem Ausmaß möglich sei. So sei insbesondere die Stimmung im Saal nicht wahrnehmbar, Zwischenrufe seien nicht zuordenbar und eine unmittelbare Kommunikation mit Abgeordneten abseits der Tribüne sei nicht möglich. Auch die technische Ausstattung auf der Tribüne sei nicht mit jener auf der Plenarsaalebene vergleichbar (kein Mikrofon, keine Tische, keine An­zeige der restlichen Redezeit, kein Wasserspender etc.). Des Weiteren bestehe kein Zugang zu den Medienvertreter:innen auf der Plenarsaalebene. Zudem würden die be­troffenen Abgeordneten mit sensiblen Gesundheitsdaten bloßgestellt und in einer dis­kriminierenden Position exponiert.

Im Fall des Nichterlasses der einstweiligen Anordnung wären die Antragsteller – vo­raussichtlich für einen Großteil der Legislaturperiode – gehindert, ihre verfassungsmä­ßigen Abgeordnetenrechte wahrzunehmen. Der zu verhindernde schwere Nachteil liege darüber hinaus darin, dass aufgrund des mit der Allgemeinverfügung angestrebten Konzeptwechsels hin zu einem „Zweiklassensystem“, eine „unmittelbare Bedrohung der Verfassungsordnung des Bundes“ bestehe.

Ebenso in diesem Verfahren folgte das BVerfG der Argumentation der Antragsteller nicht:

Von einem Konzeptwechsel durch die Einschränkung des Minderheitenschutzes könne insbesondere schon deshalb nicht die Rede sein, weil die Maßnahmen alle Abgeordne­ten gleichermaßen treffen. Es finde keine Differenzierung nach parlamentarischer Mehrheit oder Minderheit statt. Zudem sei zu berücksichtigen, dass die Allgemeinver­fügung nur für wenige Wochen gelte, was gegen die Annahme eines Konzeptwechsels spreche.

Auch sonst würde die behauptete Beeinträchtigung der Mitwirkungsmöglichkeiten an Plenardebatten und Ausschusssitzungen die vorläufige Aussetzung der Allgemeinver­fügung nicht erforderlich machen: So folge aus der Möglichkeit für nicht geimpfte bzw. nicht genesene Abgeordnete, an Plenarsitzungen von der Tribüne aus teilzunehmen, für sich genommen kein schwerwiegender Nachteil im Sinn eines vollständigen Sit­zungsausschlusses. Auch aus den geänderten äußeren Umständen der Mitwirkung an Plenarsitzungen allein ergebe sich keine Notwendigkeit der vorübergehenden Außer­kraftsetzung der Allgemeinverfügung. Zwar würden die Rahmenbedingungen für die Möglichkeit zur Wahrnehmung parlamentarischer Beteiligungsrechte im Vergleich zur Plenarsaalebene modifiziert, im wesentlichen Umfang blieben diese aber erhalten. Ins­besondere könnten die betroffenen Abgeordneten unverändert von ihrem Rede-, Stimm- und Antragsrecht Gebrauch machen. Die gerügte mangelhafte technische Aus­stattung (kein Mikrofon etc.) sei zum einen teilweise faktisch unzutreffend, zum ande­ren hätte hier zwischenzeitlich eine weitestgehende Angleichung an die Bedingungen im Plenarsitzungssaal stattgefunden. Darüber hinaus führte das BVerG ins Treffen, dass der überwiegende Teil der Abgeordneten der AfD geimpft oder genesen ist und daher gänzlich ungehindert an Plenarsitzungen teilnehmen könne.

Ebenso begründe die fehlende Möglichkeit, von der Tribüne aus „Gemurmel, Raunen oder die ganze Stimmung im Saal aufzunehmen“ und mit allen Abgeordneten uneinge­schränkt zu kommunizieren, keine Notwendigkeit des Erlasses einer einstweiligen An­ordnung. Ob daraus eine Verletzung der verfassungsrechtlichen Abgeordnetenrechte resultiere, sei im Hauptsacheverfahren zu klären.

Zuletzt hätten die Antragsteller nicht dargelegt, inwiefern die mit der Platzierung auf der Tribüne verbundene Preisgabe sensibler Gesundheitsdaten zu einer Beeinträchti­gung der parlamentarischen Abgeordnetenrechte führen solle. Auch die Behauptung, die Antragsteller würden durch die Maßnahme diskriminiert, sei vor dem Hintergrund der generellen Anwendbarkeit der Allgemeinverfügung auf alle Mitglieder des BT nicht haltbar.

Hinsichtlich der Teilnahme an Ausschusssitzungen verwies das BVerfG inhaltlich auf die Ausführungen zu den Mitwirkungsmöglichkeiten in Plenarsitzungen. Hier sei zudem aufgrund der Möglichkeit für ungetestete Abgeordnete, im Wege elektronischer Kom­munikationsmittel an Sitzungen teilzunehmen, überhaupt kein Ausschluss von der Aus­schussarbeit gegeben.

Das BVerfG kam somit auch in diesem Verfahren zum Ergebnis, dass die Anforderungen an die begründete Darlegung eines schweren Nachteils nicht erfüllt sind.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und die Volltexte der Entscheidungen (Beschluss vom 26. Jänner 2022 und Beschluss vom 8. März 2022).

Vgl. zu dieser Thematik auch die Auswertung der Entscheidung des BVerfG 6.12.2021, 2 BvR 2164/21.