Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.04.2020

Auferlegung einer Geldstrafe nicht ausreichend bestimmt

Keine ausreichende Rechtsgrundlage für Auferlegung einer Geldstrafe wegen mobiler App iZm einem Referendum. EGMR 20.1.2020, 201/17, Magyar Kétfarkú Kutya Párt gg. Ungarn.

Sachverhalt

Beim Beschwerdeführer handelt es sich um eine in Budapest registrierte politische Partei (Magyar Kétfarkú Kutya Párt, im Folgenden: MKKP), die ihre politische Haltung im Wege der Satire vermittelt, die direkt an die politische Elite und die Regierungsparteien adressiert ist. So startete MKKP etwa im Zuge der verstärkten Flüchtlingsbewegungen im Jahr 2015 eine „Anti-Anti-Immigrations-Kampagne“.

Im Oktober 2016 wurde in Ungarn ein Referendum abgehalten, das die Pläne der Europäischen Union zur Umsiedelung von Migrant/inn/en zum Gegenstand hatte. Dabei wurde der Bevölkerung folgende Frage gestellt: „Möchten Sie, dass die Europäische Union ermächtigt wird, die verpflichtende Ansiedelung von nicht-ungarischen Staatsangehörigen in Ungarn ohne Zustimmung des Parlaments anzuordnen?“

Dieses Referendum zog viel Kritik nach sich, nicht zuletzt durch die Oppositionsparteien. Sie riefen dazu auf, das Referendum zu boykottieren oder als Protest ungültige Stimmen abzugeben. Auch MKKP stand dem Referendum kritisch gegenüber und entwickelte im Vorfeld dessen (September 2016) eine mobile App, die es Wähler/inne/n ermöglichte, in anonymisierter Form ihre ungültigen Stimmzettel zu fotografieren, hochzuladen und zu kommentieren.

Anlässlich einer Beschwerde durch eine Privatperson erlegte die ungarische Wahlkommission MKKP eine Geldstrafe auf: Die App stelle Kampagnentätigkeit dar und verstoße gegen die – im ungarischen Wahlverfahrensgesetz verschriftlichten – Grundsätze der fairen Wahl, des Wahlgeheimnisses und der Ausübung von Rechten in Einklang mit ihrem Zweck („exercise of rights in accordance with their purpose“). Die Kuria (oberstes Rechtsprechungsorgan in Ungarn) revidierte die Entscheidung der Wahlkommission dahingehend, dass MKKP mit ihrer App lediglich gegen den Grundsatz der Ausübung von Rechten in Einklang mit ihrem Zweck verstößt. Daraufhin erhob MKKP Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit der Behauptung, in Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung) verletzt worden zu sein.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der EGMR prüfte zunächst, ob das Verhalten der MKKP überhaupt in den Schutzbereich von Art. 10 EMRK fällt. Dies bejahte er unter Verweis auf seine ständige Rechtsprechung: Das Posten von abfotografierten Stimmzetteln stelle zweifelsohne eine Form der Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit dar. Zwar sei MKKP nicht Autor der Fotos; vielmehr habe sie im Wege der Bereitstellung einer App zur Verbreitung der Fotos beigetragen. Der EGMR hat jedoch schon mehrfach festgehalten, dass Art. 10 EMRK nicht nur auf den Inhalt einer bestimmten Information anwendbar ist, sondern auch auf die Mittel ihrer Verbreitung. Die von MKKP entwickelte App stelle ein ebensolches Mittel zur Verbreitung von politischen Meinungen dar, das Wähler/inne/n ermöglicht, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung auszuüben. Darüber hinaus habe MKKP selbst die Wähler/innen aufgefordert, ungültige Stimmzettel hochzuladen. Dadurch habe MKKP nicht nur ein Forum für Wähler/innen bereitgestellt, sondern auch selbst eine politische Botschaft übermittelt.

Die Maßnahmen der ungarischen Behörden würden folglich einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung der MKKP darstellen, der auch nicht gerechtfertigt werden könne. Der Eingriff sei schon deshalb nicht gerechtfertigt, weil er nicht – wie Art. 10 Abs. 2 EMRK verlangt – vom Gesetz vorgesehen ist, denn: Art. 10 Abs. 2 EMRK verlange nicht bloß, dass es eine nationale Rechtsgrundlage für einen Eingriff gibt, sondern stelle auch auf die Qualität dieser Rechtsgrundlage ab. Das Gesetz müsse für die betroffenen Personen insbesondere zugänglich und vorhersehbar sein.

Zwar sei die im vorliegenden Fall angewandte nationale Rechtsgrundlage (ungarisches Wahlverfahrensgesetz) ausreichend zugänglich; allerdings erachtete der EGMR die einschlägige Norm für nicht ausreichend vorhersehbar. Um diesem Erfordernis gerecht zu werden, müsse eine Norm nämlich auch ausreichend bestimmt sein, sodass die Rechtsunterworfenen ihr Verhalten danach ausrichten können.

Im gegebenen Fall stelle sich die Frage, ob MKKP hätte wissen können, dass das anonymisierte Fotografieren und Hochladen von Stimmzetteln einen Verstoß gegen das nationale Wahlrecht darstellt; dies, obwohl es keine Bestimmung gibt, die ein solches Verhalten ausdrücklich verbietet. Diese Frage verneinte der EGMR mit den folgenden Argumenten:

Da das ungarische Wahlverfahrensgesetz nicht selbst definiert, welches Verhalten eine Verletzung des Grundsatzes der Ausübung von Rechten in Einklang mit ihrem Zweck darstellt, liege es an den nationalen Behörden und Gerichten, diese Bestimmung auszulegen. In diesem Zusammenhang hielt der EGMR zunächst fest, dass bei der Auslegung ganz besondere Sorgfalt hätte angewandt werden müssen, da es hier um die Ausübung von Wahlrechten und die offene Diskussion von Angelegenheiten von öffentlichem Interesse ging.

Der EGMR merkte weiters an, dass sowohl das ungarische Verfassungsgericht als auch die Kuria in ihrer bisherigen Rechtsprechung den Grundsatz der Ausübung von Rechten in Einklang mit ihrem Zweck nur dann als verletzt erachtet haben, wenn das fragliche Verhalten eines Rechtsunterworfenen „negative Folgen“ für andere gehabt hat (z.B. die Verletzung ihrer Rechte). Im gegebenen Fall habe die Kuria die erstinstanzliche Entscheidung der Wahlkommission bloß dahingehend verworfen, dass das Verhalten der MKKP weder die Grundsätze der fairen Wahl noch des Wahlgeheimnisses verletzt hat. Allerdings habe die Kuria an keiner Stelle festgehalten, inwiefern das Verhalten der MKKP – mit Blick auf den Grundsatz der Ausübung von Rechten in Einklang mit ihrem Zweck – negative Folgen gehabt und somit zur Verletzung dieses Grundsatzes geführt hat.

Die nationalen Behörden hätten gerade in einem Fall wie dem vorliegenden besondere Sorgfalt mit Blick auf die Vorhersehbarkeit der einschlägigen Bestimmung an den Tag legen müssen, zumal es hier um die Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit einer politischen Partei im Zusammenhang mit einem Referendum ging. Dies sei im gegebenen Fall nicht gelungen, weshalb MKKP in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK verletzt worden sei.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).