Fachinfos - Judikaturauswertungen 11.08.2022

Deutscher Bundestag nicht an Wahlvorschläge gebunden

Erfolglose Organstreitverfahren zur Wahl einer Vizepräsidentin bzw. eines Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages (11. August 2022)

Dt. BVerfG 22.3.2022, 2 BvE 2/20 und 2 BvE 9/20

Die Fraktion der Alternative für Deutschland (AfD) im Deutschen Bundestag und eines ihrer Mitglieder sahen sich in ihren Rechten verletzt, da mehrere von ihnen vorgeschla­gene Kandidat:innen nicht zur Vizepräsidentin bzw. zum Vizepräsidenten gewählt wur­den und der Wahlvorschlag des einzelnen Abgeordneten als unzulässig zurückgewiesen wurde. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sah keine Verletzung: Das Parlament sei nicht verpflichtet, bestimmte Kandidat:innen zu wählen oder die Gründe für deren Ablehnung darzulegen. Wahlvorschläge einzelner Abgeordneter könnten die Funkti­onsfähigkeit des Parlaments nicht gleichermaßen gewährleisten.

Sachverhalt

Die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag hatte in der zurückliegenden Legislaturpe­riode mehrere Abgeordnete erfolglos für die Wahl zur Vizepräsidentin bzw. zum Vize­präsidenten vorgeschlagen. Im Zuge der Wahlen schlug ein Mitglied der AfD-Fraktion einen weiteren Abgeordneten als Kandidaten vor. Der Deutsche Bundestag wies diesen Antrag jedoch zurück, da einem einzelnen Abgeordneten kein Vorschlagsrecht für die Wahl einer Vizepräsidentin bzw. eines Vizepräsidenten zustünde.

Daraufhin setzten sich die AfD-Fraktion (2 BvE 9/20) und der einzelne Abgeordnete (2 BvE 2/20) in Organstreitverfahren zur Wehr. Beide sahen sich in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt: Die AfD-Fraktion brachte vor, der Bundestag hätte sicherstellen müssen, dass die Ablehnungen aller ihrer Kandidat:innen nicht von sachwidrigen Gründen be­stimmt werden. Der Abgeordnete sah sich in seinem Recht auf gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung verletzt. Der Deutsche Bundestag bzw. sein Prä­sident entgegneten, dass das GG keinen Anspruch auf Vertretung im Präsidium ge­währe und die AfD-Fraktion versuche, über den Zwischenschritt der Abgeordneten­gleichheit einen Anspruch auf gleiche Mitwirkung im Präsidium zu begründen. Zudem handle es sich bei der Wahl einer Vizepräsidentin bzw. eines Vizepräsidenten um einen Teil der politischen Organisation des Bundestages und nicht um die allgemeine parla­mentarische Willensbildung.

Entscheidungen des Deutschen Bundesverfassungsgerichts

Antragstellerin: AfD-Fraktion (2 BvE 9/20)

Das BVerfG hielt die AfD-Fraktion „offensichtlich nicht“ in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt: Zwar hätten Fraktionen einen Anspruch auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung. Dies umfasse auch Entscheidun­gen über die innere Organisation einschließlich der Festlegung und Besetzung von Lei­tungsämtern und gelte dem Grundsatz nach auch für den Zugang zum Präsidium. Je­doch stehe dieses Recht unter dem Vorbehalt der Wahl durch die Abgeordneten: Es könne nur verwirklicht werden, wenn die von dieser Fraktion vorgeschlagenen Kandi­dat:innen die erforderliche Mehrheit erreichen. Das GG sehe ja ausdrücklich eine Wahl vor und gerade kein von einer Wahl losgelöstes Besetzungsrecht der Fraktionen.

Das Mitwirkungs- und Teilhaberecht der Fraktionen gehe daher über ein Vorschlags­recht für die Wahl sowie die Durchführung einer ordnungsgemäßen Wahl nicht hinaus. Es bestünden auch keine Anhaltspunkte, dass der Deutsche Bundestag im vorliegenden Fall das Vorschlagsrecht der Antragstellerin missachtet oder die Wahlen nicht ord­nungsgemäß durchgeführt hätte.

Wahlen würden sich zudem gerade durch die Wahlfreiheit auszeichnen. Der mit einer Wahl einhergehende legitimatorische Mehrwert könnte nicht erreicht werden, wenn es eine Pflicht zur Wahl von bestimmten Kandidat:innen gäbe. Zudem wäre es mit der durch das freie Mandat gewährleisteten Wahlfreiheit nicht vereinbar, dass einzelne Ab­geordnete unmittelbar oder mittelbar dazu verpflichtet würden, ihre Wahlabsicht oder ihre Stimmabgabe offenzulegen oder zu begründen.

Antragsteller: Einzelner Abgeordneter (2 BvE 2/20)

Das BVerfG hielt den Antrag des Abgeordneten für unbegründet. Zwar umfasse das freie Mandat grundsätzlich auch das Recht, Wahlvorschläge zu machen. Jedoch stünde dem das hinreichend gewichtige Verfassungsgut der Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages gegenüber: Über die Vizepräsident:innen sollten sich alle Fraktionen in die Organisationsentscheidungen einbringen können und deren Akzeptanz verbessert wer­den, was der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages diene. Dafür bräuchten die Vizepräsident:innen die Unterstützung und das Vertrauen ihrer Fraktio­nen. Wahlvorschläge einzelner Abgeordneter könnten nicht in gleichem Maße gewähr­leisten, dass die bzw. der Vorgeschlagene von den vertretenen Fraktionen getragen und akzeptiert wird. Fraktionsvorschläge könnten Konflikten bei der späteren Amtsführung, insbesondere bei der Wahrnehmung der ordnungswahrenden und disziplinierenden Aufgabe der Sitzungsleitung, besser entgegenwirken.

Der Abgeordnete sei nur eingeschränkt in seinem Recht auf gleichberechtigte Mitwir­kung an der parlamentarischen Arbeit beeinträchtigt. Denn die Wahl der Stellvertre­ter:innen betreffe zumindest unmittelbar keinen Gegenstand der politischen Willens­bildung im engeren Sinn, sondern eine primär innerorganisatorische Angelegenheit des Parlaments. Zudem bleibe dem Abgeordneten auch ohne ein eigenes Wahlvorschlags­recht ein erhebliches Maß an Möglichkeiten zur Einwirkung auf den Vorschlag seiner Fraktion. Vor allem bleibe seine Mitwirkung an der Wahl selbst erhalten.

Vgl. zu diesen Verfahren die Pressemitteilungen zu 2 BvE 2/20 und 2 BvE 9/20 sowie die Volltexte der Entscheidungen 2 BvE 9/20 und 2 BvE 2/20.