Fachinfos - Judikaturauswertungen 11.08.2022

Deutschland: Rechtswidrige Äußerung der Bundeskanzlerin

Äußerungen von Bundeskanzlerin Merkel zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen 2020 verletzten das Recht auf Chancengleichheit der Parteien (11. August 2022)

BVerfG 15.06.2022, 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20

Die Äußerung der Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen im Rahmen einer Pressekonferenz sowie die anschließende Veröffentli­chung dieser Äußerung auf den Internetseiten der Bundeskanzlerin und der Bundes­regierung verletzten die Partei Alternative für Deutschland (AfD) in ihrem Recht auf Chancengleichheit der Parteien.

Sachverhalt

Am 5. Februar 2020 fand im Thüringer Landtag die Wahl zum Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen statt. In den zwei ersten Wahlgängen erhielt kein Kandidat die notwendige absolute Stimmenmehrheit. Für den dritten Wahlgang nominierte die Frak­tion der FDP einen weiteren Kandidaten, der mit knapper Stimmmehrheit gewählt wurde. Der Kandidat der AfD (Antragstellerin) erhielt keine Stimmen. Wegen der ange­nommenen Mitwirkung von Abgeordneten der Antragstellerin in diesem Wahlgang gab es heftige öffentliche Kritik.

Die Bundeskanzlerin äußerte sich am Folgetag im Rahmen eines Staatsempfangs mit dem Präsidenten der Republik Südafrika ebenfalls kritisch und verlangte, dass das Er­gebnis rückgängig gemacht werde sollte. Sie sagte, dass mit diesem Vorgang die „Grundüberzeugung“ der CDU gebrochen worden sei, dass „keine Mehrheiten mit Hilfe der AfD gewonnen werden sollen“. Der Vorgang sei „unverzeihlich“ gewesen, es sei ein „schlechter Tag für die Demokratie“ gewesen. Die Äußerung der Kanzlerin wurde so­wohl auf der Internetseite der Bundeskanzlerin als auch der Bundesregierung veröf­fentlicht.

Die Antragstellerin machte geltend, dass die Bundeskanzlerin bzw. die Bundesregierung (Antragsgegnerinnen) die ihnen obliegende Pflicht zur Neutralität im politischen Mei­nungskampf und damit das Recht der AfD auf Chancengleichheit der politischen Par­teien aus Art. 21 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verletzt haben.

Entscheidung des Deutschen Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hält fest, dass die streitgegenständliche Äuße­rung in amtlicher Funktion der Bundeskanzlerin getätigt wurde. Der bzw. Dem Bundes­kanzler:in komme zwar im Vergleich zu den anderen Regierungsmitgliedern ein weite­res Äußerungsrecht zu. Das Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebot müsse dennoch be­achtet werden.

Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien unterliege keinem absoluten Diffe­renzierungsverbot, so das BVerfG. Gründe, die Ungleichbehandlungen rechtfertigen und der Bundesregierung eine Befugnis zum Eingriff in die Chancengleichheit der Par­teien verleihen, müssten aber durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sein, das dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Waage halten könne. Dabei sei jedenfalls den Grundsätzen der Geeignetheit und Erforderlichkeit zur Errei­chung der verfassungsrechtlich legitimierten Zwecke Rechnung zu tragen.

Im vorliegenden Fall sei der Eingriff in das Recht der Antragstellerin auf Chancengleich­heit im politischen Wettbewerb durch die Äußerung der Bundeskanzlerin nicht gerecht­fertigt: Weder könne sie sich auf den Schutz der Arbeitsfähigkeit und Stabilität der Bun­desregierung berufen, noch die Wahrung des Ansehens der und des Vertrauens in die Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft geltend machen. Ebenso we­nig handele es sich bei der streitbefangenen Äußerung um eine zulässige Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit der Bundeskanzlerin.

Durch die eigeninitiativ erfolgte Veröffentlichung der Äußerung auf ihren offiziellen In­ternetseiten sei eine aktive Verbreitung einer einseitig zulasten der Antragstellerin ge­troffenen Äußerung erfolgt, bei der staatliche Ressourcen im politischen Meinungs­kampf eingesetzt worden seien, die anderen politischen Mitwerbenden nicht zur Ver­fügung stünden.

Der Senat des BVerfG kam somit zum Ergebnis, dass die Antragstellerin durch die Äu­ßerung und deren Veröffentlichung in ihrem Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 des GG verletzt wurde.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.