Fachinfos - Judikaturauswertungen 14.10.2021

Ende eines politischen Sendungsformats

EGMR: Einstellung einer Politiksendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen verletzte nicht Meinungsfreiheit politischer Organisationen (14. Oktober 2021)

EGMR 31.8.2021, 20002/13, Associazione Politica Nazionale Lista Marco Pannella und Radicali Italiani gg. Italien

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte fest, dass die vollständige Einstellung eines politischen Sendungsformats im öffentlich-rechtlichen Fernsehen keine unverhältnismäßige Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit politischer Organisationen darstellt, wenn sie unterschiedslos für alle politischen Gruppierungen gilt und gleichzeitig andere mediale Möglichkeiten bestehen, der Öffentlichkeit die für den demokratischen Willensbildungsprozess wichtigen politischen Meinungen der unterschiedlichen Akteurinnen bzw. Akteure durch öffentliche Diskussionen und Meinungsaustausch mitzuteilen. Kann die Einstellung des Sendungsformats innerstaatlich jedoch gar nicht bekämpft werden, weil sie durch ein parlamentarisches Gremium getroffen wird, fehlt es an einer effektiven Beschwerdemöglichkeit nach Art. 13 EMRK.

Sachverhalt

Nach einer Entscheidung des für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Italien zuständigen parlamentarischen Gremiums wurde ein Sendungsformat aus dem Programm des italienischen Staatsfernsehens genommen, in dem VertreterInnen politischer Parteien und Organisationen außerhalb von Wahlkampfdebatten in regelmäßigen Abständen zu aktuellen Themen diskutiert und ihre Meinungen geäußert hatten. Wahlkampfdebatten vor Wahlen blieben ebenso Teil des Programms wie Nachrichtensendungen zu politischen Themen. Zwei politische Organisationen, die regelmäßig an den eingestellten Sendungen teilgenommen hatten, fühlten sich durch die Programmänderung und das Ende des Sendungsformats in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK verletzt und richteten eine Individualbeschwerde an den EGMR.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

Der EGMR stellte fest, dass ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK, sollte ein solcher überhaupt gegeben sein, im konkreten Fall jedenfalls gerechtfertigt ist. Die Einstellung des Sendungsformats sei auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage erfolgt und habe das legitime Ziel des Schutzes der Unparteilichkeit und des Pluralismus von Information und damit des demokratischen Prozesses verfolgt. Sie sei durch hinreichende Gründe gerechtfertigt und damit verhältnismäßig gewesen:

Zwar sei die politische Debatte in einer demokratischen Gesellschaft von zentraler Bedeutung und das Fernsehen spiele dabei aufgrund seiner besonderen Unmittelbarkeit eine entscheidende Rolle, weshalb dem Rundfunk grundsätzlich starke grundrechtliche Garantien zukommen müssten. Der Staat sei auch – im Sinne eines guten Funktionierens der Demokratie – verpflichtet, in Rundfunk und Fernsehen ein Forum für die politische Willensbildung zu gewährleisten, in dem Pluralismus und Meinungsvielfalt prägend seien und das als Grundlage für die freie Meinungsäußerung der BürgerInnen und deren Wahlentscheidungen diene. Diese Verpflichtung sei auch nicht auf die unmittelbare Zeit vor Wahlen beschränkt, weil der demokratische Prozess konstant durch eine freie und pluralistische Debatte gewährleistet werden müsse.

Im vorliegenden Fall handle es sich allerdings nicht um ein gegen eine politische Partei gerichtetes absolutes Verbot, an der im Fernsehen übertragenen politischen Debatte teilzunehmen, sondern um eine vollständige Einstellung des gesamten Sendungsformats für alle Akteurinnen bzw. Akteure. Zudem werde die politische Debatte im Fernsehen auch nicht im Vorfeld von Wahlen unterbunden, in der sie von besonderer Wichtigkeit sei und daher einen besonderen Schutz genieße. Die Sendungen seien auch nicht bloß eingestellt, sondern vielmehr durch andere politische Sendeformate ersetzt worden, die politischen Gruppierungen und Parteien nun andere Möglichkeiten eröffneten, im öffentlichen Fernsehen politischen Ideen und Meinungen zu verbreiten.

Entscheidend sei weiters, dass alle politischen Gruppierungen und Parteien unterschiedslos von der Einstellung des Sendeformats betroffen gewesen seien, weshalb sich die Frage der unterschiedlichen Behandlung verschiedener politischer Meinungen nicht stelle, die unter Umständen in Konflikt mit den grundrechtlichen Garantien aus Art. 10 EMRK hätte geraten können.

Bei den eingestellten Sendungen habe es sich um ein Format gehandelt, das aus den 1970er-Jahren und damit einem anderen medialen Kontext stammte. Mittlerweile habe sich das mediale Angebot stark weiterentwickelt. Es sei nachvollziehbar, dass das Interesse an dem Fernsehformat in der Bevölkerung abgenommen habe und inzwischen für die politischen Parteien und Organisationen zahlreiche andere Möglichkeiten vorhanden seien, ihre Meinungen zu äußern und der Bevölkerung nahe zu bringen.

Die Einstellung des Sendeformats sei auch im allgemeinen Kontext der Weiterentwicklung des öffentlichen Fernsehens in Italien zu sehen. Diese Entwicklung bestehe in einer graduellen Reduktion des Einflusses politischer Kräfte und der Verstärkung der redaktionellen Autonomie der Sender und Nachrichtenverantwortlichen im Sinne der Erhöhung von Unparteilichkeit, Objektivität und Pluralismus von Information.

Der EGMR gelangte vor dem Hintergrund dieser Faktoren zu dem Ergebnis, dass die Einstellung des Sendungsformats die politischen Organisationen nicht daran hinderte, ihre Meinungen zu verbreiten und daher auch keine unverhältnismäßige Beschränkung ihrer Meinungsfreiheit darstellte.

Die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, dass die Entscheidung des parlamentarischen Gremiums über die Einstellung des Sendungsformats keine Verwaltungsentscheidung, sondern eine politische Entscheidung und daher nicht justiziabel sei, wertete der EGMR allerdings als Verletzung des Rechts auf eine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK. Den BeschwerdeführerInnen habe kein effektives innerstaatliches Rechtsmittel gegen die Einstellung des Sendungsformats zur Verfügung gestanden.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in englischer Sprache) und den Volltext der Entscheidung (in französischer Sprache).