Fachinfos - Judikaturauswertungen 15.12.2022

Entfernung eines Wahlbeobachters aus Wahllokal verletzte Art. 10 EMRK

Ein Wahlbeobachter filmte unter anderem die Stimmenauszählung in einem Wahllokal. Seine darauffolgende Entfernung aus dem Wahllokal verletzte sein Recht auf freie Meinungsäußerung (15. Dezember 2022)

EGMR 13.9.2022, 15758/13, Sharipov gg. Russland

Ein Wahlbeobachter wurde aus einem Wahllokal entfernt, weil er unter anderem die Stimmenauszählung gefilmt hatte. Er erhob Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und behauptete, in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt worden zu sein. Der EGMR hielt fest, dass die Tätigkeit von Wahlbeobachter:innen von ähnlicher Bedeutung wie die der Presse sei. Der Beschwerdeführer habe als „public watchdog“ Informationen gesammelt, um diese an die Öffentlichkeit weiterzugeben. Die Entfernung aus dem Wahllokal habe ihn daher in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt.

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer, ein russischer Staatsangehöriger, war ein von einer politischen Partei bestellter Wahlbeobachter. Er verfolgte die im Jahr 2011 stattfindenden russischen Parlamentswahlen in einem Wahllokal in Moskau. Am Wahltag erließ der Wahlausschuss dieses Wahllokals einen Beschluss, mit dem nähere Regelungen für das Filmen im Wahllokal festgelegt wurden. Das (ununterbrochene) Filmen war grundsätzlich zulässig, aber das Filmen der Gesichter der Beamt:innen ohne deren schriftliche Zustimmung und das Kommentieren der Ereignisse während des Filmens wurden verboten. Der Beschwerdeführer filmte – nachdem er die Regelungen (mit dem Zusatz „disagree“) unterzeichnet hatte – die Wahl und sodann die Stimmenauszählung. Daraufhin stellte der Wahlausschuss fest, dass der Beschwerdeführer wiederholt gegen die Vorschriften verstoßen habe, und ließ ihn von Polizeibeamten aus dem Wahllokal entfernen.

Der Beschwerdeführer behauptete, er sei entfernt worden, weil er schwerwiegende Verfahrensverstöße der Mitglieder des Wahlausschusses gefilmt habe (z.B. eine unrechtmäßige Unterbrechung vor der Stimmenauszählung und den Versuch des Vorsitzenden des Wahlausschusses, die Liste der Wähler:innen unrechtmäßig aus dem Raum der Stimmenauszählung zu nehmen). Zudem seien in weiterer Folge auch die übrigen Wahlbeobachter:innen aus dem Wahllokal entfernt worden. Die Wahlbeobachter:innen meldeten diese Vorfälle später an eine höhere Wahlbehörde. Der Beschwerdeführer veröffentlichte sein Video auf „YouTube“, welches mehrere tausend Mal angesehen wurde.

Die erhobene Klage gegen die Rechtmäßigkeit der Entfernung aus dem Wahllokal (sowie die erhobenen Rechtsmittel) blieben innerstaatlich erfolglos.

Der Beschwerdeführer behauptet in seiner Beschwerde an den EGMR, durch die Entfernung aus dem Wahllokal in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) und in seinem Recht auf freie Wahlen (Art. 3 des 1. ZP zur EMRK) verletzt worden zu sein.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Recht auf freie Wahlen (Art. 3 des 1. ZP zur EMRK)

Dem EGMR zufolge fällt die Beschwerde nicht in den Anwendungsbereich des Rechts auf freie Wahlen nach Art. 3 des 1. ZP zur EMRK. Die Beschwerde betreffe weder das aktive oder passive Wahlrecht des Beschwerdeführers, noch die damit auferlegten positiven Verpflichtungen.

Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK)

In dieser Hinsicht gab der EGMR der Beschwerde statt und erklärte den Beschwerdeführer in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt.

Der EGMR hielt zur Tätigkeit des Beschwerdeführers als Wahlbeobachter (Sammeln von Informationen, um diese an die Öffentlichkeit weiterzugeben) fest, dass diese von ähnlicher Bedeutung wie die der Presse sei. In Anbetracht der grundlegenden Bedeutung solcher Wahlen in jeder demokratischen Gesellschaft und der wesentlichen Rolle der politischen Parteien im Wahlprozess habe der Beschwerdeführer sein Recht auf freie Meinungsäußerung als „public watchdog“ in einer demokratischen Gesellschaft ausgeübt. Der Schutz des Art. 10 EMRK sei daher auf seine Tätigkeit anwendbar.

Der Eingriff in Art. 10 EMRK habe darin bestanden, dass der Beschwerdeführer aus dem Wahllokal entfernt und dadurch daran gehindert wurde, seine Funktion als Wahlbeobachter auszuüben. Es sei jedenfalls nicht nachgewiesen worden, dass der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ gewesen wäre.

Da der Schutz von Art. 10 EMRK nicht absolut sei, prüfte der EGMR, ob die von den Behörden angeführten Gründe „sachdienlich und ausreichend“ waren, um die Entfernung aus dem Wahllokal zu rechtfertigen: Den inländischen Behörden zufolge sei der Beschwerdeführer aus dem Wahllokal entfernt worden, weil er Druck auf die Mitglieder des Wahlausschusses ausgeübt und sie ohne deren Zustimmung gefilmt habe. Die Entscheidung des Wahlausschusses hat, so der EGMR, jedoch nicht einmal grundlegende Einzelheiten des Fehlverhaltens des Beschwerdeführers enthalten. Weiters hätten die innerstaatlichen Gerichte das Fehlen von Tatsachenangaben nicht nachgeholt. Es habe weder eine Darlegung der durch den Beschwerdeführer bewirkten Behinderung der Arbeit des Wahlausschusses noch eine weitergehende Prüfung hinsichtlich einer etwaigen Rechtfertigung und/oder eines gelinderen Mittels gegeben.

Der EGMR kam daher zu dem Schluss, dass die Behörden keine „sachdienlichen und ausreichenden“ Gründe für die Anwendung der angefochtenen Maßnahme angeführt haben. Der Beschwerdeführer sei daher in seinem Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 10 EMRK) verletzt worden.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).